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Schlafforschung: Alles schläft, einsam wacht?

Was wir ein Drittel unseres Lebens machen? Schlafen! Jedenfalls
wenn’s gut läuft. Warum tut der Mensch es überhaupt, wie viele Stunden
sind genug und was hilft, wenn wir abends nicht einschlafen können und
morgens wie gerädert aufwachen? Diesen und weiteren Fragen widmet ZEIT
ONLINE den Schwerpunkt “Besser schlafen”.

Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens, heißt es. Gut so! Denn Schlaf ist alles andere als nutzlos, sondern eine notwendige Ruhepause für Körper und Geist. Wer zu wenig oder andauernd schlecht schläft, kann krank werden: Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Alzheimer, die Liste der Krankheiten, die Schlaf nachweislich beeinflussen, wird jedes Jahr länger.

Entsprechend fasziniert studieren Mediziner seit Jahrzehnten Schlafende. Und stellen fest: Von Krankheiten lässt sich nicht nur auf nächtliche Unruhe rückschließen, sondern Schlaf ist ein Krankheitsbarometer. Wer ihn zu lesen weiß, erkennt manche Erkrankungen, bevor sie sich beim wachen Menschen bemerkbar machen. Damit lernt eine Ärztin, die einen Schlafenden beobachtet, manchmal mehr über ihn, als im direkten Gespräch.

Wir sollten wissen, wie wir schlafen

Auslesen lässt sich das Verhalten in der Nacht in vielerlei Hinsicht. Ärzte können beispielsweise erfragen, wie erholt eine Person nach dem Schlafen ist und ob sie sich an ihre Träume erinnert. Oder Ärztinnen leiten Hirnströme ab und prüfen, ob die Augäpfel hektisch unter geschlossenen Lidern hin- und her kreisen. Oder sie überwachen den Herzschlag sowie den Atem und beobachten, ob die Muskeln, die in den meisten Schlafphasen eigentlich schlaff sein sollten, sich bewegen, und ob jemand in seinen Träumen wild um sich tritt oder aus dem Bett fällt. All das liefert wertvolle Hinweise.

So könnte etwa depressiv sein, wer sich trotz stundenlanger Nachtruhe andauernd müde fühlt. Das zumindest schreiben Allgemeinmediziner der Uni Marburg. Ein Fünftel all jener, die sich an ihre Ärztin wandten, weil sie unter Müdigkeit litten, hatte eine Depression (BMC Family Practice: Stadje et al., 2016). Depressive Menschen wachen im Schnitt auch häufiger auf und haben weniger Tiefschlafminuten pro Nacht als Gesunde (siehe etwa Dialogues in Clinical Neuroscience: Nutt et al., 2008). Eine große Studie aus den USA legt außerdem nahe, dass Menschen,
die Schlafprobleme hatten, in der Folge viel häufiger an Depressionen
und Angststörungen erkrankten als solche, die gut schliefen (Jama: Ford et al., 1989).

Das bedeutet, Psychiaterinnen und Psychotherapeuten könnten künftig auch anhand des Schlafverhaltens vorhersagen, wer nach Extremsituationen psychisch krank wird. Denn oft ist es so, dass zwei Menschen sehr Ähnliches erleben – Vernachlässigung, großen Stress, extreme Gewalt, Krieg oder Misshandlung –, aber nur einer von ihnen krank wird, depressiv oder traumatisiert. Vieles kann die beiden trennen, etwa die Gene, wie viel soziale Unterstützung sie bekommen oder wie ihre Persönlichkeit aufgebaut ist. Aber eben auch ihr Schlaf.

Besonders eindrücklich zeigt sich das bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Die Patienten und Patientinnen haben oft unvorstellbares Leid
gesehen oder erlebt; Krieg, Folter oder Vergewaltigungen. Manche durchleben die schrecklichen Momente Tage, Monate, manchmal gar Jahre in
Form von Flashbacks am helllichten Tag oder als Albträumen in der
Nacht erneut. US-Soldaten, die beispielsweise in den Krieg geschickt wurden,
entwickelten dann besonders oft eine PTBS, wenn sie bereits vorher
Schlafprobleme hatten (Sleep: Gehrman et al., 2013). Schlaflosigkeit und ein gestörtes Verarbeiten des Traumas scheinen sich
gegenseitig zu verstärken (Sleep Medicine Reviews: Sinha, 2016).

Dabei geht es vor allem um den Rapid-Eye-Movement-Schlaf, kurz REM-Schlaf (siehe Infobox: So ist der Schlaf aufgebaut) (American Journal of Psychiatry: Germain, 2013).
Ausgelesen wird er in der sogenannten Polysomnographie, bei der Ärzte
unter anderem Hirnströme ableiten (EEG), die Muskelaktivität
analysieren und die Augenbewegungen messen. Ist ein Mensch im
REM-Schlaf, bewegen sich die Augen, die Muskeln hingegen sind absolut
still und die Hirnströme wiederum viel hektischer als im Tiefschlaf und
ähneln stark jenen von wachen Menschen.

Der REM-Schlaf, schreibt der bekannte Schlafforscher Matthew Walker in seinem großen Buch vom Schlaf,
“führt Sie Nacht für Nacht in ein groteskes Theater, in dem Sie ein
bizarrer, äußerst assoziativer Reigen autobiografischer Themen
erwartet”. Es scheint, als würden wir die Erfahrungen und Reize, die wir
während unserer Wachphasen erlebt haben, im REM-Schlaf neu erfahren und
in anderer Art und Weise zusammensetzen. Schon Sigmund Freud vermutete
übrigens vor mehr als hundert Jahren, dass
posttraumatische Albträume der zwanghafte Versuch sei, Ängste und
Schuldgefühle des Traumas zu bewältigen.

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