/“Kulturgeschichte der DDR”: “Erstaunlich, wie lange dieses Land existiert hat”

“Kulturgeschichte der DDR”: “Erstaunlich, wie lange dieses Land existiert hat”

DIE ZEIT:
Herr Dietrich, Sie haben eine Kulturgeschichte der DDR vorgelegt: 2400 Seiten lang! Sie ist
die größte zusammenhängende Darstellung dieses untergegangenen Landes. Darf man das als
Ostdeutscher eigentlich schreiben?

Gerd Dietrich:
Man muss sogar. Ich fühlte eine innere Verpflichtung dazu. Die westdeutsche Dominanz ist ja
eindeutig. Alle griffigen DDR-Geschichten stammen von westdeutschen Historikern. Und die
bisher existierenden drei deutschen Kulturgeschichten behandeln die DDR jeweils nur am
Rande. Da ist bis heute eine Lücke geblieben!

ZEIT:
Wieso wird die DDR oft nur am Rand erzählt? Sprichwörtlich geworden ist Hans-Ulrich Wehlers
Aussage über sie als “Fußnote der Geschichte”.

Dietrich:
Wenn ich das wüsste. Nach der Wiedervereinigung gab es vor allem das politische Interesse,
die DDR zu delegitimieren. Insofern war es logisch, dass sie in der Geschichtsschreibung
keinen großen Platz einnehmen sollte. Und, ja, die Fußnote: Das Zitat stammt zwar von Stefan Heym, aber Wehler hat es gern aufgegriffen. Die Sieger schreiben immer die Geschichte.
Zumindest am Anfang ist das so. Wir Ostdeutschen waren vorsichtig. Oder ängstlich, unsicher?
Wir brauchten Zeit, überhaupt zu verstehen, was mit dem Ende der DDR passiert ist. Das ging
mir ja auch so. An der Humboldt-Universität gab es nach der Wiedervereinigung zunächst nur
noch einen einzigen ostdeutschen Geschichtsprofessor.

ZEIT:
Sie hatten schon zu DDR-Zeiten gelehrt. Warum durften Sie weitermachen?

Dietrich:
Das war einer Kette glücklicher Umstände zu verdanken. Und ich bin hartnäckig geblieben.
Nachdem die Akademie der Wissenschaften per Einigungsvertrag 1991 aufgelöst wurde, wurden
alle ostdeutschen Forscher evaluiert. Jene, die positiv evaluiert waren – wie ich –, sollten
sich an den Hochschulen eingliedern. Aber das war illusorisch.

ZEIT:
Warum?

Dietrich:
Die ostdeutschen Wissenschaftler, die bleiben durften, wurden als eine Art Edel-ABM-Kräfte
betrachtet. Ich habe von 1992 bis 2010 an der Humboldt-Uni immer die gleiche Arbeit gemacht,
stets Kulturgeschichte gelehrt, Vorlesungen gehalten, aber ich war zu keinem Zeitpunkt fest
angestellt, sondern wurde durch externe Programme finanziert. Mal als Gastprofessor, mal als
Vertretungsprofessor. Ein Jahr lang habe ich sogar gearbeitet, ohne irgendein Gehalt zu
bekommen. Meine Frau musste da das Geld verdienen.

ZEIT:
Das muss für Sie und viele andere kränkend gewesen sein.

Dietrich:
Natürlich! Aber es war auch eine ambivalente Erfahrung. Einerseits stand ich am Rand,
andererseits habe ich es geschafft, als einziger Ostler am Geschichtsinstitut der HU bleiben
zu können. Ich kann mit Stolz sagen: Ich habe durchgehalten! Aber meine Kulturgeschichte
konnte ich natürlich erst schreiben, nachdem ich in Rente gegangen war. Finanziert hat mir
diese Arbeit niemand.

ZEIT:
Was ist eine Kulturgeschichte eigentlich?

Dietrich:
Ironischerweise könnte man sagen: Das definiert jeder selbst. Ich folge einem sehr weiten
Kulturbegriff. Von politischer Kultur, Alltags-, über Populär- bis hin zur Hochkultur.
Kultur ist für mich ein Grundprozess jeder Gesellschaft, oder anders gesagt: Alle Prozesse
sind von Kultur teilweise dominiert, teilweise beeinflusst. Und für die DDR gilt: Dort
spielte natürlich Kulturpolitik eine größere Rolle als in anderen Ländern. Aber mein
Bestreben war es, Kulturpolitik nicht als die dominierende Macht zu interpretieren, sondern
sie einzuordnen. Die zentrale Frage ist: Was konnte Kulturpolitik beeinflussen und was
nicht?

ZEIT:
Sie versuchen in drei Bänden quer durch die Jahrzehnte auszuloten, wie weit die Politik ins
Leben der Menschen vordringen konnte. Ist das jene Ambivalenz, die Sie im Vorwort
fordern?

Dietrich:
Das richtet sich gegen die ausschließliche Interpretation der DDR als eine Diktatur. Es
gilt, die Gesellschaft ebenso in den Blick zu nehmen. Viele Prozesse waren politisch
dominiert oder sozialistisch deklariert, aber haben vielfach Wirkungen nach sich gezogen,
die man nicht mit ideologischen Metaphern erklären kann. Es hatte alles mehrere Seiten. Das
meine ich mit Ambivalenz. Wissen Sie, was für mich das Faszinierendste an der DDR ist?

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