„Alles ist Politik“, sagt plötzlich einer mitten im Palaver. Der Satz steht ohne Anknüpfung im Raum. Man könnte ihn als Schlachtruf verstehen oder als Selbstvergewisserung, warum man heute wieder aufgestanden ist, um für einen Hungerlohn zu arbeiten. Auf jeden Fall ist es ein bemerkenswerter Satz, denn er steht für den jüngeren Wandel Griechenlands im Allgemeinen und für den Sonderweg dieser kleinen Firma im Speziellen. Ausgesprochen hat den Satz Dimitris Koumatsioulis, über dessen Augen ein Schleier liegt, so hellgrau wie Ouzo, in den man eben erst einen Schluck Wasser gegeben hat. Er gehört zu jenen, die schon hier waren, bevor alles begann.
Früher wäre Koumatsioulis, der mit 14 die Schule verließ, um in einer Schuhfabrik das dringend benötigte Geld für die Familie zu verdienen, so ein Satz nicht in den Sinn gekommen. Als er 2003 bei Viome anheuerte, war er stolz. Der Mutterkonzern exportierte in 29 Länder und zahlte überdurchschnittliche Gehälter. Die Fliesen aus Thessaloniki zieren heute noch unter anderem den Flughafen von Dubai. An der Wand halten sie dank Koumatsioulis und Kollegen. Das Leben war gut, das dritte Kind unterwegs und der Kredit fürs Haus bewilligt. Dann kamen das Jahr 2010 und die Krise. Die ersten Freunde verloren ihre Jobs, erste Fabriken schlossen ihre Tore. Nur für kurz, hieß es in Thessaloniki, das sei nur eine Phase, sagte man. Doch die Phase hielt an.
Ein Jahr später rumorte es auch in der großen Werkshalle von Viome. Einige Arbeiter hatten am Zahltag kein Geld erhalten. Man solle warten, ein Problem in der Buchhaltung, hieß es. Man wartete, vergeblich. Im folgenden Monat gingen weitere Arbeiter leer aus. Danach noch mehr. Immer wieder wurden kleinere Beträge gezahlt, größere nicht. Die Arbeiter verhandelten einige Monate – als sie in Streik traten, verließ die Firmenleitung das Gelände und kehrte nicht mehr zurück. Im Mai 2011 meldete Philkeram Johnson Insolvenz an. Das galt auch für die Tochterfirma Viome.
Koumatsioulis war zu jener Zeit 42 Jahre alt, und im Land hatte bereits fast jeder Fünfte seinen Job verloren. Tendenz steigend. Wenn er von jener Zeit spricht, verengen sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, als blende ihn die Erinnerung. Heute sagt er über jene Tage: „Ich kenne keinen, der damals nicht irgendwann mal an Selbstmord gedacht hat. Es gibt diesen Punkt, wenn man das Gefühl hat, am Abgrund zu stehen.“
Doch einfach aufgeben wollten die Arbeiter nicht. Kaum einer der 70 Menschen würde anderswo einen Job finden. Vom Staat war kaum Hilfe zu erwarten, der hing selbst am Tropf. Also schlugen einige vor, in Eigenregie zu produzieren. Wie die Maschinen funktionierten, wisse man ja, und schlechter laufen als jetzt könne es nicht. 97,5 Prozent stimmten dem Vorschlag zu. Und so wuchteten die Leute ein paar alte Fässer als Barrikaden auf die Zufahrtsstraßen und gingen trotz Insolvenz einfach weiter zur Arbeit.
Hinter dem fast einstimmigen Ergebnis stand weder eine Partei noch eine politische Bewegung. Nur der Wille, sich nicht mit den Umständen abzufinden. „Viome war bis zum letzten Tag profitabel. Warum sollten wir das aufgeben?“, sagt Koumatsioulis. Nach der Besetzung gab sich die linke Prominenz die Aufseherhäuschenklinke in die Hand. Die US-amerikanische Globalisierungskritikerin Naomi Klein hielt auf dem Werkshof eine Rede, und der damals noch wahlkämpfende Alexis Tsipras kam gleich zweimal zu Besuch, versprach viel – und hielt davon wenig.
Zwar hegen Koumatsioulis und seine Kollegen einen persönlichen Groll gegen die ehemalige Führungsriege, doch eigentlich geht es ihnen ums Ganze. „Unsere Produkte hatten einen exzellenten Ruf – und wer hat sie hergestellt?“, fragt Koumatsioulis. „Meine Kollegen und ich. Nicht die Chefs. Die haben uns am Ende bestohlen und im Stich gelassen. Wie kann man argumentieren, dass dieses System gerecht ist?“
Doch der Kampf für ein anderes Wirtschaften fordert seine Opfer. Gerade mal zehn Euro Lohn gab es im ersten Jahr am Ende der Schicht. Für acht Stunden Arbeit. Heute sind es rund 390 Euro pro Monat. Immer noch ein kümmerlicher Betrag, der das Selbstwertgefühl belastet. Die meisten können sich die Arbeit bei Viome nur leisten, weil sie einen Partner haben, der mehr verdient. Nicht jede Beziehung hält das aus. Koumatsioulis’ Ehe zerbrach. Um über die Runden zu kommen, war er nach der Scheidung auf Doppelschichten und die Hilfe Dritter angewiesen.
„Ich war beeindruckt, wie viel Solidarität es schon in den ersten Monaten gab“, sagt er. Gerade jene, die kaum etwas hatten, kamen vorbei und teilten ihren Besitz. Manchmal war es nur eine Packung Spaghetti oder ein Zwei-Euro-Stück. Wichtiger war, dass jemand da war, der an einen dachte und glaubte. „Die Krise hat uns solidarischer gemacht“, sagt Vragoteris, der Vorsitzende. Als kürzlich Abgesandte der Stadtwerke mit der Polizei vor den Toren standen, um den Strom wegen einiger unbezahlter Rechnungen abzustellen, waren binnen einer Stunde wieder mehr als hundert Unterstützer vor Ort, die sich der Polizei in den Weg stellten. Der Strom blieb an. Und die Rechnungen sind heute bezahlt.
Die Idee mit der Seifenproduktion war nicht nur pragmatisch, sondern auch ein geschickter Marketing-Schachzug. Denn um die Aufmerksamkeit jener zu erhalten, die Viome vor der Polizei beschützen sollten, musste man ein Produkt anbieten, mit dem die Unterstützer auch etwas anfangen konnten. Ein Stück Ökoseife aus der Rebellenfabrik von Thessaloniki lässt sich in Berliner Öko-Läden verkaufen. Industriekleber nicht.
„Einfacher ist das Leben zwar nicht geworden, aber fairer“, sagt Koumatsioulis. Sein Vorbild und das seiner Kollegen ist die argentinische Fábrica Sin Patrones, die 2002 nach Konkurs und ausstehenden Lohnzahlungen von 240 Arbeitern besetzt wurde und heute 430 Menschen in Selbstverwaltung beschäftigt. Die Maschinen zur Herstellung von Keramikfliesen haben sie zurückgekauft, und das Gelände wurde ihnen nach zähem Ringen vom Staat zugesprochen. Dort floriert das Geschäft. „Bis dahin haben wir noch einen langen Weg vor uns“, sagt Nicole Logotheti, „wir bewegen uns in Ameisenschritten, aber wir bewegen uns.“ Sie gehört zu jenen Mitstreitern, die erst nach der Besetzung hier in Thessaloniki angefangen haben.
Nach Expansion sieht es bei Viome nicht aus, als um kurz vor elf die Arbeiter ihr Raucherkabuff verlassen und einer ein Fass unter dem wolkenlosen Himmel über den Hof zur Werkshalle rollt. Über ihm setzt ein Flugzeug zum Anflug auf einen der landesweit 14 Flughäfen an, die bis mindestens 2057 von der deutschen Fraport betrieben werden – ein Krisen-Schnäppchen für den Konzern. Unten gähnt indes Bolek, einer der beiden Firmenhunde, im Schatten der Halle. Ein Arbeiter massiert ihm den Bauch. Bolek kam kurz nach der Besetzung als Welpe auf den Hof gelaufen und wurde von den hiesigen Katzen aufgezogen.
Früher hätten Vorarbeiter über die Länge jeder Zigarettenpause gewacht und die Arbeiter wie auf einer Galeere angetrieben, berichten die Veteranen. „Aber damals haben wir nur so getan, als würden wir schneller arbeiten“, sagt Koumatsioulis, der mit zwei Kollegen an einer selbst gebauten Maschine Flüssigseife abfüllt. „Und wenn sie uns gedemütigt haben, haben wir uns durch noch langsameres Arbeiten gerächt.“ Heute sprächen alle auf Augenhöhe miteinander, das sei unbezahlbar. Um das zu beweisen, brüllt er quer durch die Halle, gegen das Radio, aus dem gerade Kostas Makedonas sein „Mono Mia Fora“ schmachtet, über den leeren Fabrikhof, rüber zum Chemielabor, wo er Nicole Logotheti vermutet. Sie soll bestätigen, dass es keinen Unterschied gibt zwischen den Neuen und den Alten. Sie bestätigt das gern.
Trotzdem kann man die beiden Gruppen deutlich voneinander unterscheiden. Da ist die alte Riege, Arbeiter, die „Scheiße“ sagen, wenn sie etwas scheiße finden. Und da ist die neue Riege, Studierte aus Thessaloniki oder Athen, die, wenn sie etwas fragen wollen, drei Hallen weit gehen und sich dann vertraulich zum Gegenüber hinunterbeugen; die „einerseits-andererseits“ sagen oder Dinge „noch nicht so optimal“ finden. So sieht Logotheti, die mit rot lackierten Fingernägeln einen Bottich schrubbt, dabei ebenso fehl am Platz aus wie Koumatsioulis, wenn er für die Buchhaltung seine Lesebrille aufsetzt und den ausgestreckten Zeigefinger über der Tastatur kreisen lässt wie einen Adler auf Nahrungssuche. Doch beide geben sich Mühe. Jeder soll alles machen, und zwar nach seinen Fähigkeiten. Besser, ein Vorgang dauert doppelt so lange, als wieder eine Führungsriege zulassen, die am Ende alle betrügt, sagen sie. Einstimmig.
Allen offensichtlichen Unterschieden in Bildung und Sozialisierung zum Trotz ist die Belegschaft zu einer respektvollen und befreundeten Masse verschmolzen. „Es waren die alten Arbeiter, die uns Neue dazugeholt haben“, sagt Logotheti, „dazu gehört viel Mut und Offenheit.“ Die Suche nach einer gemeinsamen Sprache ist ein andauernder Prozess. „Gerade probieren wir eine alternierende Moderation in unseren Morgenbesprechungen aus“, sagt die 33-Jährige. „Wenn sich das bewährt, bleiben wir dabei. Und wenn nicht, dann lassen wir es halt wieder.“ Das Schöne an der Selbstverwaltung sei, dass man Fehler machen dürfe, solange man daraus lerne. „Eine Produktion ohne Fehler ist nicht möglich“, sagt sie. Sicher, die Diskussionen, vor allem die am Morgen, seien schrecklich ineffizient, da falle es ihr manchmal schwer, ruhig zu bleiben, aber das sei ein annehmbarer Preis für die Selbstverwaltung.
Wichtig sei, dass jeder irren dürfe. Die diplomierte Chemikerin deutet auf das Labor. Gewöhnlichen Arbeitern sei hier früher der Zutritt verwehrt gewesen. Heute darf, nein: soll jeder rein. Seitdem sieht es dort zwar aus, als hätte man grobe Fehler im Umgang mit Sprengstoff gemacht, dafür hat kürzlich erst ein Arbeiter durch Tüfteln einen teuren, synthetischen Ausgangsstoff durch einen viel günstigeren und ökologischeren ersetzt. Früher hätte man ihn von der Schwelle gejagt, heute hat er den Fortbestand der Firma gesichert. Denn jeden Euro, den sie sich auszahlen, müssen sie auch selbst verdienen. Selbstverwaltung heißt, dass da kein Großkonzern im Hintergrund steht, der über schwierige Zeiten mit Millionenkrediten hinweghilft. Ab und zu bringt ein Soli-Festival auf dem Werksgelände zwar ein wenig Geld ein, doch da sich der Unterstützerkreis nicht gerade aus der europäischen Oberschicht speist, halten sich diese Einnahmen in Grenzen.
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