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Weihnachtsgans: Essen auf Federn

Die Traumata, die Familien aufgrund misslungener Gänsebraten zu Weihnachten erlitten
haben, sitzen tief. Die Köchinnen und Köche müssen mit einem komischen Vogel
kulinarisch performen, die anderen kauen auf zähem Fleisch,
während
Knabenchöre im
Hintergrund von der Heiligen Nacht säuseln. Für viele ist
das unterster Höllenkreis. Und doch bleibt die Weihnachtsgans
symbolgewordener Ausdruck bürgerlicher Feiertagskultur. Vielleicht in Zeiten des
Neobiedermeiers sogar mehr als je zuvor.

Schon seit einigen Jahren gibt es eine Renaissance von
privaten Dinner Clubs und gehobenen Restaurants in Szenestadtteilen wie
Berlin-Neukölln, die mit
coolen Variationen althergebrachter Standards einem urbanen, jungen Publikum
gefallen wollen. Dieses Publikum entdeckt nun auch das traute Heim zunehmend
wieder als einen Ort, an dem das gemeinsame Dinner mit Freunden und Familie zu
einem avancierten sozialen Ritual werden kann und soll. Am dringlichsten
offenbart sich das nun an Weihnachten. Damit entsteht auch der Wunsch nach
einem vernünftigen
Braten.

Diesen Wunsch zu erfüllen, daran macht sich seit einiger
Zeit das Berliner Start-up Gans Einfach, das
bis zu den Feiertagen an die 800 Gänse vorgegart, vakuumiert und
deutschlandweit verschickt haben wird. Gelangt man auf die Website, ist diese erst mal cool und übersichtlich, mit Bildern wie in
hochwertigen zeitgenössischen Kochbüchern und Blogs. Natürlich wird auch – das gehört dazu – eine Geschichte erzählt, die den Bogen vom Start-up zurück in eine familiäre Tradition
schlägt: Man lernt Marc Fischer kennen, Glatzkopf, Mitte 30, Kind
einer Fleischerfamilie, der mit seiner Frau Nicole das Catering-Unternehmen Beef&Co führt und sich nun, zu Weihnachten, im
zweiten Jahr in Folge, auf die Gans konzentriert. Geschichte heißt hier “Story”, und die soll wohl dabei helfen, dass das heritage authentisch
rüberkommt.

Gänsehautmoment. In Biesdorf werden die Braten zwölf Stunden lang vorgegart – damit sie später nur 60 Minuten “aufgeknuspert” werden müssen.
© Lorelai von Lux

Angesichts dieses Grades an hochglänzender Inszenierung überrascht es
fast ein wenig, dass ein Besuch des Betriebs im Berliner Stadtteil Biesdorf
ihr tatsächlich gerecht wird. Man betritt ein kleines Ladenlokal, eine
Art Showroom, mit gedecktem Tisch, Tresen und einer Bar. Daneben steht ein zwei
Meter breites Aquarium, eine 13 Monate alte Dackeldame tollt herum. Im hinteren
Bereich dieser ehemaligen Gärtnerei befindet sich die Küche mit den Garöfen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hier Gänse mit Füllung stopfen, garen und anschließend kühl stellen, wirken wie ein Teil einer
großen Familie.
Wenn die Kundschaft es will, kann sie vorbeikommen und sich von Nicole Fischer herumführen lassen. Die Schwelle zwischen Digitalem und Analogem soll bewusst niedrig sein.

Der überwiegende Teil der Gänse wird gefroren aus Polen
angeliefert und in Biesdorf zwölf Stunden lang vorgegart. Dazu gibt es die Option, eine Gans
von einem brandenburgischen Biohof zu bestellen – was allerdings knapp hundert Euro mehr
kostet und nebenbei einen gewissen sozial-kulinarischen Experimentcharakter hat.
Denn manchen Kunden, erzählt Fischer, ist das Biofleisch, das viel fester und dunkler ist, zu charaktervoll im Geschmack. Die
Geschmackspalette vieler Kunden hat sich an das weiße Fleisch aus der Massentierhaltung
gewöhnt, Textur
und nuancierter Wildgeschmack wirken auf viele befremdlich.

Das Drumherum ist aber convenient: Die Fischers
bieten als Beilagen selbst angesetzte Orangen-Beifuß-Soße, Grün- und Apfelrotkohl sowie Knödel aus Bayern. Der Kunde erhält eine Kiste, mit Kühlakkus in einer speziellen Folie
eingepackt. Zu Hause muss der Braten noch 60 Minuten erhitzt und “aufgeknuspert” werden, die Beilagen werden im Beutel
im Wasserbad erwärmt.

Viele der Designdetails der Verpackung sind ausgesucht: Die
Tragetaschen werden mit den Aquarellen einer Berliner Illustratorin bedruckt,
selbst die Waschklemmen, die das Rezept und einen Dankesbrief zusammenhalten,
werden lokal mit dem Namenszug von Gans Einfach geprägt.

Beladen mit Beilagen: Gründer Marc Fischer (r.) liefert den Vogel klassisch mit Rotkohl.
© Lorelai von Lux

Damit hat das Biesdorfer Start-up einen klaren Design- und Brandingvorteil,
mit der Idee des Gansversands ist es aber nicht allein: Die Maritim Hotels
bieten fertige wie auch vorgegarte Braten für Selbstabholer und per Haus an, ebenso das Enten- und Gänsetaxi oder der DelikatEssen Discounter. Spitzenlokale wie das Berliner
Rutz Restaurant &
Weinbar werben zu Weihnachten für “Sterneküche to go”. Doch nicht nur in Berlin: Wer bei
Google seine Adresse und “Weihnachtsgans fertig” eingibt, findet meist ein lokales
Unternehmen, welches den perfekten Festtagsschmaus verspricht.

Das Besondere bei Gans Einfach ist: Das Start-up
befindet sich eben an der Schnittstelle von urbaner Hipster-Bubble und mittelständischem Familienbetrieb. Der
Traditionalismus, der hier gepflegt wird, ist ein federleichter. Er wirkt wie
ein Update in einer Zeit, die nach Orientierung sucht, in Ritualen und
Umgangsformen fündig wird, aber diese nicht einfach imitiert, sondern
weiterdenkt, anpasst, an eine neue diverse Lebensrealität. Für eine alte
Dame, die sich im letzten Jahr mit Blumenstrauß vor Ort in
Biesdorf bedankte, bedeutet die geleistete Vorarbeit, ganz handfest, eine weihnachtliche
Befreiung aus der Küche. Für andere ist
die transformierte Gans ein Beitrag zur aktuellen Debatte um Heimat und Identität.

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