Der französische Wirtschaftswissenschaftler Jean Pisani-Ferry war 2017 im Wahlkampfteam des heutigen Präsidenten Emmanuel Macron. Als Chefberater des damaligen Präsidentschaftskandidaten war Pisani-Ferry für wesentliche Teile des Wahlprogramms verantwortlich. Bereits 2014, als Macron noch Wirtschaftsminister war, hatte Pisani-Ferry für ihn ein europapolitisches Grundsatzpapier verfasst. Darin forderte der Ökonom unter anderem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in Frankreich sowie eine Lockerung der 35-Stunden-Woche. Pisani-Ferry arbeitet heute unter anderem an der Hertie School of Governance in Berlin.
ZEIT ONLINE: Seit Wochen halten die Bewegungen der sogenannten GelbwestenFrankreich in Atem. Was sind das für Leute, die jetzt auf die Straßen gehen?
Jean Pisani-Ferry: Es sind vor allem Arbeiter, Angehörige der unteren Mittelschicht, Menschen, die in der Provinz leben, abseits der großen Städte.
ZEIT ONLINE: Was treibt sie an?
Pisani-Ferry: Sie protestieren dagegen, dass das Leben für sie immer härter wird. Ein Beispiel: Die Steuervorteile für Diesel wurden gestrichen, aber viele dieser Menschen haben wegen dieser Vergünstigungen einen Diesel gekauft und sind auf ihr Auto als Transportmittel angewiesen. Sie haben den Eindruck, dass sie kämpfen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen.
ZEIT ONLINE: Ist das so?
Pisani-Ferry: Ich habe mir die Einkommensentwicklung genauer angeschaut: Zwischen 2000 und 2017 ist die Wirtschaft um etwa acht Prozent gewachsen, das Haushaltseinkommen hat ebenfalls um acht Prozent zugelegt. Das klingt auf den ersten Blick so, als sei alles in Ordnung. Aber die Zahl der Haushalte ist gestiegen, wegen der Alterung der Gesellschaft und weil es mehr Alleinstehende gibt. Wenn man das berücksichtigt, dann hat das Einkommen in den vergangenen zehn Jahren nicht zugenommen. Die Leute gehen auch nicht davon aus, dass sich daran so schnell etwas ändern wird, weil die beruflichen Aufstiegschancen fehlen.
ZEIT ONLINE: Weshalb ist der Konflikt so schnell eskaliert?
Pisani-Ferry: Ein großer Teil der Bevölkerung hat den Eindruck, dass sie innerhalb des politischen Systems mit ihren Anliegen nicht durchdringen, weil sie im Parlament nicht repräsentiert werden. Die Partei von Staatspräsident Emmanuel Macron kontrolliert die überwiegende Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung. Die Abgeordneten sind vor allem Leute aus den großen Städten.
ZEIT ONLINE: Wie mächtig ist die Bewegung?
Pisani-Ferry: Zahlenmäßig ist sie nicht sehr groß. Wir sprechen von vielleicht 100.000 bis 200.000 Leuten, die an den Demonstrationen teilnehmen, was für französische Verhältnisse wenig ist. Aber der Rückhalt in der Bevölkerung ist gewaltig. Die Gewaltausbrüche werden zwar von der großen Mehrheit der Franzosen abgelehnt, aber etwa 70 Prozent unterstützen Umfragen zufolge die Proteste.
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