Essstörungen sind einsame, düstere und zerstörerische Erkrankungen. Oft leiden Betroffene jahrelang allein, fügen ihren Körpern durch übertriebenes Essen oder Hungern, extremen Sport, Erbrechen oder Abführen massiven Schaden zu. Wissenschaftler*innen forschen seit Jahren zu den Gründen und Ausprägungen von Magersucht, Bulimie und Binge Eating, also periodischen Heißhungeranfällen. Trotzdem sind noch viele Fragen offen. In unserer Gesellschaft und insbesondere in den sozialen Medien zeigen sich Essstörungen jedoch ganz anders: Dort steht zum Beispiel Magersucht häufig in Verbindung mit Schönheit und Schlankheit oder auch Glamour und Prominenz.
Die Journalistinnen und Fotografinnen Nora Burgard-Arp und Anna Kant wollen mit ihrem Projekt für diese verzerrten Wahrnehmungen sensibilisieren. Dafür haben sie mehrere Frauen und Männer interviewt, die an Magersucht und Bullimie erkrankt sind. Das Ergebnis: Viele von ihnen leiden massiv unter den Reaktionen anderer. Unter vermeintlich harmlosen Sätzen von Eltern und Freund*innen, Ärzt*innen und Therapeut*innen und unter der ständigen Angst, nicht ernst genommen zu werden.
ze.tt hat mit Nora Burgard-Arp darüber gesprochen, was sie an Frauenzeitschriften ärgert, was Essstörungen zu so komplexen Krankheiten macht und wie das Umfeld besser auf Betroffene reagieren kann.
ze.tt: Wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig darüber geärgert, wie über Essstörungen geschrieben oder berichtet wurde?
Nora Burgard-Arp: Oh, das kann ich ad hoc gar nicht so sagen, aber mir fällt immer der Auslöser für mich ein. Das war 2013, als Fiona Erdmann ins Dschungelcamp einzog. Damals habe ich die Sendung noch geguckt und fand das auch ganz unterhaltsam, habe dann aber gemerkt, wie über Fiona berichtet wurde. Die Boulevardmedien haben sich auf sie drauf gestürzt, haben immer von Bulimie und Magersucht gesprochen und sehr verächtlich über sie geschrieben. Das war für mich eine Kehrtwende. Wie erlauben die sich das, solche Ferndiagnosen zu stellen? Würde ich jetzt eine Frauenzeitschrift aufmachen, könnte ich dir wahrscheinlich sofort ein Beispiel zeigen:
Was mich immer wieder ärgert, ist dieses Zusammenbringen von Magerschock und Schönheitswahn. In der einen Ausgabe wird geschrieben ,Oh, sie hat so abgenommen, die muss doch psychisch krank sein‘. Und in der Nächsten wird sich dann über ihre Cellulites lustig gemacht.
Nora Burgard-Arp
Welchen Einfluss sehen Sie von Boulevardmedien oder auch TV-Shows wie Germany’s Next Topmodel auf Betroffene von Essstörungen?
Schuld an einer Essstörung haben sie sicherlich nicht in dem Sinne, dass sie der Grund sind. Da wird es sich auch ein bisschen leicht gemacht. Essstörungen sind wahnsinnig komplexe Krankheiten, bei denen auch Wissenschaftler zum Teil noch gar nicht genau wissen, wieso, weshalb, warum. Was man weiß ist, dass es immer eine Kombination aus verschiedenen Auslösern ist. Ich glaube nicht, dass jemand vom reinen Anschauen einer Zeitschrift oder Sendung eine Essstörung entwickelt. Betroffene haben mir oft erzählt, dass sie sich so auch in eine Schublade gedrängt fühlen: „Du willst doch bloß aussehen, wie Model XY, das ist doch albern, iss doch einfach mal mehr.“ Sie fühlen sich so nicht ernst genommen.
Nichtsdestotrotz glaube ich, dass Germany’s Next Topmodel eine der schlimmsten Sendungen ist, die wir haben. Weil eben auf eine perfide Art den zum Teil noch Kindern erzählt wird, dass es völlig in Ordnung ist, halbnackt vor einer Jury zu tanzen oder sich anhören zu müssen, dass hier und da etwas nicht straff genug ist.
Der Titel Ihres Projekts greift dieses Vermischen auf ironische Art und Weise auf: Heute sind alle magersüchtig.
Genau, damit wollte ich sagen, es gibt natürlich einen Schlankheitswahn in unserer Gesellschaft und den sollte man auch kritisch beäugen: Welches Frauenbild haben wir eigentlich? Wie können wir daran etwas ändern? Aber nicht jeder, der sagt, „Ich finde meinen Körper nicht toll“, ist essgestört. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass in der Boulevard-Berichterstattung nahezu jede prominente Frau als essgestört galt. Genau diese Verallgemeinerungen beeinflussen und fördern unsere vereinfachte und teilweise schlicht falsche Wahrnehmung der Krankheiten. Da hat sich in den letzten Jahren aber auch etwas getan. Heute wird differenzierter berichtet.
Welche Punkte fehlen Ihnen trotzdem noch?
Die vielen offenen Fragen. In der breiten Wahrnehmung der Gesellschaft sind die Krankheiten eng verbunden mit Untergewicht und Essen, was auch wichtige Merkmale sind – aber eben nicht nur. Sätze, die viele Betroffenen hören, wie: „Was, du bist essgestört? Also ich hatte mal eine in meiner Klasse, die war richtig richtig dürr. Du bist doch eigentlich normalgewichtig“ – können eine totale Krise auslösen, weil die Betroffenen dann denken, sie können nicht mal die Essstörung richtig machen. Ich glaube, es fehlt das Wissen, wie komplex diese Krankheiten tatsächlich sind und dass nicht alle Betroffenen 30 Kilo wiegen, aber trotzdem leiden. Viele hören auch solche Sprüche: „Essen ist doch wie atmen, ich versteh das nicht, warum isst du nicht einfach?“ Genau diese Wirkkraft von vermeintlich harmlosen Sätzen wollen Anna Kant und ich mit unserem Fotoprojekt zeigen.
Worte haben immer eine große Macht, und bei Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, besonders.
Nora Burgard-Arp
Sie haben mit vielen Betroffenen gesprochen. Was hat diese Menschen krank gemacht?
Das Muster, das ich erkenne, ist, dass es extrem individuell ist. Es sind schon bei allen Betroffenen irgendwelche Verletzungen vorhanden. Die einen wurden in der Schule gemobbt, andere haben ein frühkindliches Trauma erlebt. Bei vielen ist aber auch Verschiedenes zusammengekommen. Den reinen Schönheitswunsch habe ich noch nie als Initialgrund gehört. Aber: Viele wollten angepasster sein, wollten dazu gehören, wollten auch wahrgenommen werden. Eine hat mir gesagt: „Ich wollte einfach die Beste sein. Die Dünnste und Schönste, aber auch die Klassenbeste.“ Sie wollte Anerkennung. Das zeugt von einem sehr schlechten Selbstbild. Das haben bisher alle meine Protagonisten gemeinsam. Sie sind sehr unzufrieden mit sich selbst, sehr unsicher und denken: Ich bin einfach nicht gut genug.
Dazu fällt mir eine Geschichte aus Ihrem Projekt ein, in der es gerade nicht darum geht, wahrgenommen zu werden, sondern dass jemand verschwinden möchte.
Ja, eine Protagonistin hat mir gesagt: „Ich habe unter meiner Schönheit gelitten.“ Das klingt jetzt vielleicht erst mal abstrus. Aber ihr Vater habe immer gesagt, „meine schöne Tochter“ und „Schaut nur wie schön und toll sie ist“. Sie ist damit nicht klar gekommen. Das war im Alter von zehn, elf Jahren. In ihrem Kopf sei sie noch Kind gewesen, aber von außen wurde ihr bereits gespiegelt, dass sie so etwas wie begehrenswert sein könnte. Diese Körperfixierung hat also bei ihr ganz früh angefangen. Sie wollte nicht mehr angeguckt werden und wollte nicht, dass ihr Körper als Projektionsfläche für schön, sexy oder was auch immer dient.
Wie könnte das Umfeld besser reagieren?
Ich persönlich habe vor ein paar Jahre für mich entschieden, dass ich die Körper anderer Menschen gar nicht mehr kommentiere und bewerte. Wenn man sich selbst und andere mal im Alltag beobachtet, wird einem schnell klar, wie leicht einem Sätze einfach rausrutschen: „Du hast aber abgenommen“ oder „Du siehst ja wieder besser aus“ – was ja impliziert, dass man vorher irgendwie krank aussah. Oder auch nonchalante Witze unter Frauen. Man weiß nie, was das beim Gegenüber auslöst. Ob die Person es als Kompliment auffasst, wenn man sagt: „Wir zwei sind ja auch nicht die Schlanksten“. Auch gesunde Menschen – würde ich mal unterstellen – möchten nicht, dass ihr Körper immer im Fokus steht. Und bei kranken Menschen oder jemandem, der oder die sich davon gerade erholt, kann so ein Satz wie „Endlich haste wieder ein bisschen mehr auf den Hüften, siehst gleich viel frischer aus“ eine Krise auslösen.
Damit will ich nicht die Verantwortung an andere Menschen abgeben, die Leute sind natürlich selbst dafür verantwortlich, gesund zu werden und nicht rückfällig zu werden. Aber ich glaube diese Körperfixierung und das Bewerten von Körper ist nicht hilfreich in diesem Prozess.
Bisher haben wir nur über weibliche Betroffene gesprochen. Gibt es denn Unterschiede zu erkrankten Männern?
Jeder zehnte Betroffene von beispielsweise Magersucht ist ein Mann. Der Krankheitsverlauf ist aber ähnlich: Hungern, Selbstverletzung. Man weiß auch, dass es in der Therapie für Männer sehr schwierig ist. Kann man sich ja vorstellen, wenn man in der Klinik sitzt und der einzige Mann in der Gruppe ist. Männer haben noch mal andere Themen. Da geht es auch um Körperlichkeit, sie haben aber mit anderen Komplexen ihrer Männlichkeit zu kämpfen. Ich habe bisher zwei erkrankte Männer interviewt, die sich zum Beispiel einem ganz anderen sexuellen Leistungsdruck ausgesetzt sahen. Die Magersucht ist schon eine typische Frauenkrankheit, einfach weil mehr Frauen betroffen sind. Es sind aber immer noch nicht besonders viele Menschen, die magersüchtig sind. Die Schätzungen sind über die vergangenen zehn Jahre konstant, 0,3 bis 1 Prozent der Bevölkerung. Es bleibt also eine seltene Krankheit.
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