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„Der zweite Anschlag“: Noch immer träumt er von den Flammen

Der Dokumentarfilm „Der zweite Anschlag“ lässt Opfer rassistischer Gewalt zu Wort kommen. Sie sprechen über falsche Verdächtigungen durch die Polizei, Angst und Trauer. Eine Rezension

Von René Garzke

„Der zweite Anschlag“: Noch immer träumt er von den Flammen
Der „zweite Anschlag“ werde von der Gesellschaft verübt, sagt eines der Opfer.

Einer der ersten Schläge zertrümmerte seinen Schädel. Der in Hamburg lebende Türke Ramazan Avci ist vor 33 Jahren auf brutalstmögliche Weise von Naziskinheads ermordet worden. Nachdem er auf der Flucht vor den Rechtsextremisten von einem Auto angefahren wird, schlagen sie auf den am Boden liegenden 26-Jährigen ein. Sie attackieren Avci mit Gummiknüppeln und Axtstielen, mit ihren stahlharten Springerstiefeln treten sie auf ihn ein. Skrupellos. Splitter seines Schädelknochens bohren sich in sein Gehirn. Die Höllenqualen, die Avci erlitten hat, kann, ja mag man sich nicht ausmalen.

Sein Bewusstsein hat der 26-Jährige nach dieser brutalen Tat nie wiedererlangt. Nach drei Tagen im Krankenhaus stirbt er. Damit könnte der Fall auserzählt sein. Was fehlt, sind die Auswirkungen des Nazimords. Die Folgen jenseits der dumpfen Gewalt. Die Perspektive der mittelbaren Opfer. Es ist nicht einfach ein Mensch in einer Auseinandersetzung gestorben. Es hat auch eine Frau ihren Partner verloren. Eine Frau, die zur Tatzeit im neunten Monat schwanger war. Ramazan Avci sagt ihr, als er das Haus verlässt: „In einer halben Stunde bin ich zurück.“ Aber er kommt nicht zurück. Nie wieder. „Als ich ihn dann an diesem Tag im Krankenhaus gesehen habe, war mein Leben vorbei“, sagt Gülüstan Ayaz-Avci. Das Leid zwinge sie dazu, jetzt über das Erlebte zu sprechen. „Als mein Sohn das erste Mal ‚Papa‘ gesagt hat, wusste ich nicht, was ich machen soll.“ Wie erzählt man dem eigenen Kind, dass sein Vater ermordet wurde?

„Der zweite Anschlag“ macht die Opfer sichtbar

Genau solche Fragen sind es, die im Mittelpunkt des neu erschienenen Dokumentarfilms Der zweite Anschlag stehen. Er beleuchtet, was rassistische Gewalttaten mit den überlebenden Opfern und den Angehörigen der Getöteten machen. Der Film der Potsdamer Filmunistudentin Mala Reinhardt will die Emotionen und Geschichten der Opfer sichtbar machen. Der zweite Anschlag: „Das ist der Anschlag der Gesellschaft, der Medien, der Politiker, der Justiz“, sagt Ibrahim Arslan am Anfang des Films. Als Siebenjähriger hat er 1992 einen Brandanschlag auf das Haus seiner Familie in Mölln überlebt. Vier Stunden verbrachte er in der zur Flammenhölle gewordenen Küche, ehe er gerettet werden konnte. Seine Schwester, seine Cousine und seine Großmutter hat Arslan an die Flammen verloren. Noch heute träumt er von den brennenden Küchentöpfen.

„Der zweite Anschlag“: Noch immer träumt er von den Flammen
Das Haus der Familie Arslan in Mölln nach dem Brandanschlag von Neonazis. © Screenshot

Mit Arslans Vorwurf an „die Gesellschaft“ wird der Zuschauer des Films zwar kurze Zeit fragend zurückgelassen. Nur wenige Minuten später aber schließt Osman Taşköprü, dessen Bruder in Hamburg vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet wurde, diese Verständnislücke. Insbesondere sein Vater sei nach dem Mord von der Polizei beschuldigt worden. Beide hätten Befragungen von jeweils fast zehn Stunden über sich ergehen lassen müssen. Die Konten des Vaters seien massiv durchleuchtet worden. „Das war natürlich keine schöne Zeit“, konstatiert Taşköprü nüchtern.

Überhaupt ist die durchgehende Nüchternheit eine Stärke des Films. So abscheulich die Taten selbst waren, so sachlich kommen die Protagonisten zu Wort. Auf emotionale Inszenierungen verzichtet der Film bewusst. Keine Kamerazooms auf kullernde Tränen, keine melancholische Musik. Im Mittelpunkt sollen die Protagonisten stehen, nicht der Film.

„Der zweite Anschlag“: Noch immer träumt er von den Flammen
Der Bruder von Osman Taşköprü wurde im Hamburg vom NSU ermordet. © Screenshot

Zu oft bleibt der Film an der Oberfläche

Denn die Gesellschaft setze sich nur wenig mit den Betroffenen auseinander, bestätigt auch der Mölln-Überlebende Arslan in dem Film. Dabei gehe es genau darum – um die Betroffenenperspektive, sagt Arslan. „Es geht um uns, unsere Geschichten, unsere Sehnsüchte, unsere Forderungen.“

Mit dieser Perspektive ist der Film eine Bereicherung. Er macht brutale Gewalttaten greifbar, indem er die Opfer zu Wort kommen lässt. Dass dies bisher zu wenig geschieht, macht er dem Zuschauer auch durch an ihn gerichtete Fragen deutlich: Warum sind all diese Namen und Gesichter unbekannt? Allein, dem Film gelingt es nicht, diese Frage wirklich tiefgreifend zu beantworten. Die Schilderungen der Betroffenen sind zwar bewegend, zu oft gibt sich der Film aber mit Allgemeinplätzen zufrieden, zu oft bleibt er an der Oberfläche. Auch nach dem Abspann hat man nicht das Gefühl, die Opfer und ihre Geschichten wirklich kennengelernt zu haben.

Gezeigt wurde „Der zweite Anschlag“ unter anderem beim Filmfestival „Dok Leipzig“. Weitere Aufführungsorte werden hier bekannt gegeben.

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