Die Abendgesellschaft hat hervorragend gespeist, der abschließende
Espresso ist getrunken, die Stimmung gehoben. Als die Kellnerin die Rechnung über knapp 240
Euro bringt, legen alle ihre Scheine in die Mitte des Tisches. “Wie hoch ist die Rechnung?”,
fragt ein Gast am Ende des Tisches. “20 Euro Trinkgeld sollten es schon sein”, sagt ein
weiterer. “Das ist zu wenig”, sagt eine Dritte und legt noch einen Fünf-Euro-Schein dazu, “die
Frau war supernett.” Dann blicken alle erwartungsvoll die Kellnerin an, als sie das Geld nimmt
und lächelt. Lächelt sie wirklich? Freut sie sich auch? Hätten es nicht doch 30 Euro Trinkgeld
sein sollen?
Szenen wie diese spielen sich allabendlich ab. Es sind Szenen aus einer Ökonomie, in der sich kaum jemand trittfest fühlt. Die Gäste nicht, weil immer die Frage nagt, wie hoch ein angemessenes Trinkgeld wirklich ist. Die Ökonomen nicht, weil sie das Phänomen seit hundert Jahren mit ihren Theorien nicht zu fassen bekommen. Selbst denjenigen, die Trinkgeld bekommen, macht es zuweilen Kopfzerbrechen, denn auch ein viel zu hohes Trinkgeld kann peinlich sein. Ja geradezu ein Affront. Was ist das überhaupt für ein Spiel, an dem sich alle beteiligen, das aber kaum jemand mag?
“Trinkgeld ist älter als die Lohnarbeit des Industriezeitalters”, sagt der Historiker Winfried Speitkamp. Der Präsident der Bauhaus Universität Weimar hat sich mit der Geschichte des Trinkgelds so gründlich beschäftigt wie kaum jemand sonst. Dessen Besonderheit: “Es muss immer neu ausgehandelt werden, es gibt keinen Vertrag.”
Tatsächlich ist Trinkgeld ein Relikt aus dem Feudalzeitalter. In ihm mischen sich huldvolle Gesten der Macht, Bestechung und Bettelei, garniert mit psychologischen Tricks. Eines ist es ganz sicher nicht: eine ordentliche Entlohnung für geleistete Arbeit, in der sich beide Parteien auf Augenhöhe begegnen. Umso erstaunlicher, dass es selbst Karl Marx, einem genauen Beobachter des Industriekapitalismus, entging.
Der Begriff “Trinkgeld” taucht im Deutschen zum ersten Mal im 14. Jahrhundert auf. Zunächst ist es wohl ein gelegentliches Almosen gewesen, das Adlige dem einen oder anderen Leibeigenen zukommen ließen. Für die Ökonomie des späten Mittelalters blieb das Trinkgeld jedoch ohne Bedeutung. Seit dem 16. Jahrhundert entwickelt sich dann ein Netz von Reiserouten, auf dem Adlige, Pilger, Angehörige von Zünften und Kaufleuten in ersten Herbergen und Schenken absteigen. Anfangs ist die Übernachtung in diesen ständisch geprägten Unterkünften noch kostenlos. Jeder Stand bleibt ja unter sich.
Doch je mehr sich der Reiseverkehr in ein Transportnetz aus Postkutschen ausweitet, desto mehr Dienstleistungen müssen die Wirte anbieten. Die eigene Familie kann dies nicht allein stemmen, Dienstpersonal muss her und irgendwie unterhalten werden. Die Reisenden, die längst nicht mehr allesamt als Vertreter ihres Standes unterwegs sind, müssen zunehmend Taler springen lassen, wenn sie ein trockenes Bett, eine warme Mahlzeit und vielleicht sogar ein frisches Pferd haben wollen. Das ist noch nicht alles, was die Wirte zu bieten haben: Die Dienstmagd kann der Gast mit aufs Zimmer nehmen, wenn er noch ein paar Taler drauflegt. Und schon bald haftet dem Trinkgeld der Ruch von Liederlichkeit und Prostitution an.
Eine erste Wendung zu seiner heutigen Funktion nimmt das Trinkgeld wohl im London des 16. Jahrhunderts. In manchen Gaststätten “soll es Schalen mit der Aufschrift
to insure promptitude
gegeben haben, in die man vorab Münzen hineinlegte”, schreibt Winfried Speitkamp in seiner Kulturgeschichte des Trinkgelds.
To insure promptitude
bedeutet: sich einer schnellen Bedienung versichern – die Anfangsbuchstaben könnten der Ursprung des englischen Begriffs
“tip”
gewesen sein.
Als dann von Anfang des 18. Jahrhunderts an immer mehr Menschen Reisen und Ausflüge unternehmen, verbreitet sich das Zahlen von Trinkgeld explosionsartig in Europa. Nicht nur im Gastgewerbe. Auch in anderen Schichten ist das Zauberwort bald bekannt, das das eigene Auskommen verbessern kann, wie etwa der Schriftsteller Victor Hugo 1837 bei der Besichtigung einer Kirche in Köln erleben muss.
Als ihn der Küster zu einem Gemälde führt, ist es verhängt. Hugo fragt, von wem das Bild sei. Von Rubens, antwortet der Küster. “Ich möchte es sehen”, sagt Hugo. Der Küster holt den Kustos, der mit einer bedeutenden Geste den Vorhang entfernt. “Haben Sie es gesehen, so schließt sich der Vorhang, und der Kustos macht Ihnen ein bezeichnendes Kompliment. Trinkgeld”, schreibt Hugo in einem Brief an einen Freund. Bis hinauf zum Kirchturm wird Hugo am Ende sieben Personen Trinkgeld gegeben haben, die letzte ist der Junge, der die Glocke für ihn läutet.
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