DIE ZEIT:
Herr Professor Talmon, über den UN-Migrationspakt sind viele Gerüchte im Umlauf. Vielleicht
können Sie helfen, ein wenig Klarheit zu schaffen. Häufig wird behauptet, der Pakt bringe
ein Menschenrecht auf Migration. Ist das richtig?
Stefan Talmon:
Das ist falsch. Aus solch einem Pakt lässt sich kein individuelles Recht auf Migration
ableiten.
ZEIT:
Der nächste Vorwurf lautet, der Pakt setze zusätzliche Migration in Gang, bezwecke
womöglich sogar einen Bevölkerungsaustausch in den Staaten des Westens – richtig oder
falsch?
Talmon:
Das ist keine juristische Frage, sondern eine politische. Aber ich denke, ein
internationales Instrument wie der Pakt löst als solches keine Flüchtlingsbewegung aus und
zielt auch nicht auf einen Bevölkerungsaustausch.
ZEIT:
Schränkt der Pakt die Souveränität der Staaten ein?
Talmon:
Der Pakt sagt ausdrücklich, dass dies nicht der Fall ist, und formaljuristisch ist das auch
korrekt. Aber das Recht arbeitet auf vielen verschiedenen Ebenen.
ZEIT:
Das ist der vertrackteste Punkt: Der Pakt ist ausdrücklich juristisch unverbindlich, soll
aber durchaus politisch wirken. Das müssen Sie erklären. Rechtlich unverbindlich heißt zum
Beispiel, dass eine Bürgerin, ein Bürger keinen einklagbaren Anspruch aus dem Pakt hat?
Talmon:
Genau.
ZEIT:
Und es heißt, dass die einzelnen Staaten frei sind, die Gesetze zu erlassen, die sie für
richtig halten?
Talmon:
Ja. Es gibt auch keine völkerrechtlichen Sanktionen, wenn ein Staat sich nicht an die
Verabredungen hält.
ZEIT:
Politisch gewollt ist aber schon, dass sich etwas ändert in der Behandlung von Migranten
weltweit.
Talmon:
Richtig. Alle Staaten gehen eine politische Verpflichtung ein, und das soll das Verhalten
der Staaten beeinflussen. Und wenn sich das Verhalten der Staaten ändert, kann sich daraus
unter Umständen mittelfristig auch eine rechtliche Bindung ergeben. Dann nämlich, wenn
Völkergewohnheitsrecht entsteht.
ZEIT:
Wenn sich alle Staaten lange genug daran halten, wird das politisch Verbindliche irgendwann
auch rechtsverbindlich.
Talmon:
Genau.
ZEIT:
Wie schnell geht das?
Talmon:
Das dauert meist Jahre oder Jahrzehnte.
ZEIT:
Wer entscheidet das?
Talmon:
Letzten Endes die Gerichte.
ZEIT:
Deutsche Gerichte?
Talmon:
Auch deutsche Gerichte, aber nicht nur.
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