Um 15:39 Uhr am Freitagnachmittag tritt die CDU in eine Zukunft, die lange nicht so ungewiss war, so frei. Eine Zukunft ohne Angela Merkel an der Parteispitze. Das hat es seit 18 Jahren nicht gegeben. Beginnt nun etwas neues? Der Vergleich zur Adoleszenz ist so platt und offensichtlich, dass er sich kaum vermeiden lässt.
Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Daniel Günther eröffnet in den Hamburger Messehallen die Wahl zu der oder dem Vorsitzenden. Die Wahl, die die Ära Merkel beenden wird. Oder abwickeln? Das werden die Delegierten entscheiden.
Hinter kleinen Wahlkabinen aus Pappe im schwarz-rot-goldenen Parteidesign, die vor jedem Stuhl stehen, tauchen die 1.001 Delegierten ab. Die Auszählung läuft. Es ist heiß, fast tausend Menschen und Hunderte weitere Zuschauer in einem Raum. In den Gängen summt es. Journalisten, Gäste, Parteimitglieder murmeln gespannt, bewerten die Reden der Kandidaten.
Geht Merz als Querulant?
Das erste Wahlergebnis bringt keinen Sieger. Annegret Kramp-Karrenbauer, bisher Generalsekretärin der Partei und Favoritin auf das Amt, bekommt 450 Stimmen. Nur 50 mehr und sie hätte schon im ersten Anlauf die Mehrheit der abgegebenen 999 Stimmen gehabt. Friedrich Merz kann 392 Delegierte von sich überzeugen, Jens Spahn, von vorneherein als aussichtsloser Bewerber angesehen, erringt mit 157 Stimmen einen Achtungserfolg.
Neue Stimmzettel werden gedruckt. Diesmal nur mit zwei Namen drauf. Merz gegen Kramp-Karrenbauer. Stichwahl, es ist das wahre Duell an diesem Tag: Der 63-jährige Finanzmanager und Konservative, von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrem Weg zur Macht einst aus dem Weg geräumt. Er will einen “Strategiewechsel” in der CDU, hat er in seiner Bewerbungsrede gesagt.
Auf der anderen Seite Kramp-Karrenbauer, die 56 Jahre alte Sozialliberale, die Merkel erst vor einigen Monaten als Generalsekretärin ins Konrad-Adenauer-Haus holte, um ihr Erbe zu sichern.
Mehr als eine Stunde nach dem ersten Wahlgang knickt Tagungsleiter Günther das Mikrofon auf seinem Platz zu seinem Mund herunter – und beginnt vorzulesen: “Friedrich Merz: 482 Stimmen.” Die ersten Landesverbände ganz vorn im Saal jubeln schon. Sie wissen, dass Merz damit die Mehrheit verfehlt hat. Günther muss warten, bis sich die Stimmung beruhigt hat, bevor er die entscheidenden Worte spricht: “Auf Annegret Kramp-Karrenbauer entfallen 517 Stimmen.” Annegret, Annegret, schallt es durch die Halle.
Gegen das Merz-Lager kann AKK nicht durchregieren
Es ist ein knappes Ergebnis für die CDU, die Kampfkandidaturen bisher immer gerne vermied. Eines, das zeigt, dass Merz zwar verloren hat. Aber seine Kandidatur hat die Parteibasis und auch das mittlere Establishment der Partei ungeahnt zum Schwingen gebracht – und das, obwohl er seit 16 Jahren kein Politiker mehr gewesen ist. Er ist ganz nah rangekommen an den Sieg, der in der Partei und vielleicht auch in ganz Deutschland eine weitere Zäsur bedeutet hätte.
Leichter wird der Job als Vorsitzende der Christdemokraten daher auf keinen Fall. Kramp-Karrenbauer scheint zu ahnen, dass sie unter keinen Umständen ganz gegen das Lager in ihrer Partei Politik machen kann, das sich eine weitgehende Abkehr von ihrer Förderin Merkel wünscht.
Ihr erster Gang als Parteichefin führt sie zu ihrer Vorgängerin. Die zwei Frauen, die so vieles verbindet, fallen sich auf der Parteitagsbühne herzlich in die Arme. AKK, wie sie gerufen wird, wischt sich eine Träne aus den Augen. Oben auf der großen Leinwand wird das Motto des Parteitags eingeblendet: “Zusammenführen. Und zusammen führen.”
Merkel hatte sich dieses Motto selbst ausgesucht, kurz vor Beginn des Parteitags. “Typisch Merkel“, wie sie am Vormittag in ihrer letzten Rede als Chefin kokettiert. Ein letzter Wegweiser an ihre Partei, wie sie sich die Zeit nach ihrem Rückzug ins Kanzleramt vorstellt. Kramp-Karrenbauer hat verstanden. Sie tritt ans Rednerpult, dankt ihren Kontrahenten: Es sei “ein Wettbewerb, der uns Auftrieb gegeben hat, ein Wettbewerb mit Fairness”. Wenig später bittet sie beide Kontrahenten noch mal auf die Bühne. Das sei, wie sie sagt, ein Zeichen an die Partei. Der Applaus, der folgt, ist fast noch lauter als der Siegesjubel.
Merz’ schlechte Rede, AKK ganz selbstbewusst
Parteien mit weniger Selbstdisziplin und Machtwille könnten an so einen Wettstreit von drei Antipoden mit so knappem Ausgang schon mal zerreißen. Auch Merz sieht das. Als Unruhestifter will er nicht vom Platz gehen. Er lässt sich zwar von seinen Anhängern feiern, ruft dann aber alle auf, die ihn unterstützt haben, sich jetzt hinter AKK zu stellen.
Unter den Delegierten in der Halle ist die Stimmung gemischt. “Hinter uns liegen spannende Wochen, in denen die CDU bewiesen hat, wie viel Potenzial in ihr steckt”, sagt Mark Hauptmann, der Sprecher der sogenannten Jungen Gruppe der Union im Bundestag. Er meint: Auch mal offen über unterschiedliche Zukunftskonzepte zu streiten. Es könne die Partei aber auch befruchten, ist Hauptmann, der Merkel häufig kritisiert hat, optimistisch: “Es muss gelingen, die derzeitige Aufbruchsstimmung zu nutzen. Wichtig ist dabei ein breites inhaltliches Angebot, in dem sich alle Flügel der CDU wiederfinden.”
Andere geben sich weniger optimistisch. “Ich bin erschüttert”, sagt zum Beispiel Urban Lanig, ein Kreisrat aus Baden-Württemberg gegenüber ZEIT ONLINE. Die Wahl von Merz sei die letzte Chance der CDU gewesen, sich zu erneuern. In seinem Ortsverband habe es schon Austrittsdrohungen gegeben.
Dann geht Merz Merkel direkt an
Und Roland Ermer aus Bautzen will nicht verraten wen er gewählt hat. An seiner Basis habe es aber schon eine Mehrheit für Merz gegeben, mit ihm wäre es leichter gewesen sich gegen die AfD abzusetzen, die in Sachsen bei der Landtagswahl im kommenden Jahr die CDU zu überholen droht.
In den vergangenen Wochen haben sich die drei Kandidaten um den Parteivorsitz auf Regionalkonferenzen vorgestellt. Damals begeisterte Merz scheinbar mühelos. Diese Stimmung hatte er am Mittag noch vergebens versucht zu konservieren. Seine Botschaft war auf die frei flottierenden Konservativen und heimatlosen Marktliberalen in der Partei zugeschnitten. “Von diesem Parteitag muss ein Signal der Erneuerung ausgehen”, ruft er gleich zu Beginn seiner 20-minütigen Vorstellungsrede. Wie er sich die vorstellt? “Wir brauchen eine Agenda für die Fleißigen”, sagt der Aufsichtsratsvorsitzende eines Vermögensverwalters: “Für alle, die nicht zuerst nach dem Staat rufen.”
Immer wieder hat sich er während seiner Kandidatur bemüht, nicht zu sehr als Kandidat von gestern rüberzukommen. Als einer, der im Jahr 2002 steckengeblieben ist. In Hamburg gelang Merz das nur phasenweise. “Wir sind nicht der Meinung, dass der Staat der bessere Unternehmer ist”, sagte Merz, der bei Unternehmen viel Geld verdient hat. Nach einer Viertelstunde griff er Merkel so frontal an, wie noch nie. Die Entpolitisierung der Mitte sei ein Fehler gewesen. “Ich gebe zu, ich habe das in einem Wahlkampf auch mal sehr erfolgreich gemacht”, sagte er. “Aber alles hat seine Zeit.” Die asymmetrische Demobilisierung, das Entfernen jeder Kontroverse aus dem politischen Alltag, habe die Debatte an die Ränder der politischen Landschaft verdrängt. Das ist, was alle Merkel-Kritiker in der Partei hören wollen. Merz weiß, dass er damit umgekehrt für viele andere unwählbar wird. Umso mehr hoffte er besonders auf die ostdeutschen Landesverbände und beschwört seine Partei: “Wir überlassen den Osten nicht den Populisten von rechts und links.”
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