DIE ZEIT:
Verstehen die Pariser überhaupt, was sich da vor ihrer Haustür abspielt?
Annie Ernaux:
Überhaupt nicht, die meisten Pariser haben ja gar kein Auto! Bisher sind alle französischen
Revolutionen von Paris ausgegangen. Zum ersten Mal kommt eine nationale Revolution nicht aus
Paris.
ZEIT:
Ist es denn überhaupt eine Revolution?
Ernaux:
Es ist eine Revolution des Volkes, ganz anders als die von 1968, die nur eine
intellektuelle Revolution war. Es steckt niemand dahinter, keine Partei, keine Gewerkschaft.
Es gab einen Funken, der alles entzündet hat.
ZEIT:
1789 begann es mit der Erhöhung des Brotpreises. Heute geht es um den Benzinpreis.
Ernaux:
Keine Revolution ähnelt einer anderen, aber es gibt schon Parallelen. Allerdings ist der
Benzinpreis nur ein Vorwand.
ZEIT:
Worum geht es eigentlich?
Ernaux:
Die Benzinsteuer ist ein Symbol, die Gelbwesten brauchen das Auto, weil es da, wo sie
wohnen, keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Die kleinen Städte in Frankreich wurden
schlimm vernachlässigt, das ist eine alte Geschichte.
ZEIT:
Es geht also um den Konflikt zwischen den globalisierten Eliten in den Großstädten und den
kleinen Leuten auf dem Land?
Ernaux:
Es gibt eine privilegierte Klasse, die in den Großstädten lebt. Sie beherrscht die Kultur,
die Medien, die Kommunikationsmittel, die Grandes écoles und so weiter. Und es gibt die
Mittelklasse in den kleinen Städten, die zwar arbeitet, aber keine Hoffnung mehr hat. Eine
Frau sagte mir: Wir arbeiten und arbeiten, aber unseren Kindern wird es schlechter gehen als
uns. Der Oberbegriff für das alles ist: die Schnauze voll haben. Er verbindet die Rechte und
die Linke. Angeblich sind 72 Prozent der Franzosen für die Gelbwesten, so etwas hat es noch
nicht gegeben. Ich glaube, in Frankreich ist das Verlangen nach
egalité,
nach
sozialer Gleichheit, noch viel lebendiger als in England oder in Deutschland. Es gehört zum
Fundament der Französischen Republik. Jetzt hat man das Gefühl, dass dieses republikanische
Versprechen ein Witz geworden ist.
ZEIT:
Sind die Franzosen denn wirklich so arm, dass sie für einen Liter Benzin nicht ein paar
Cent mehr aufbringen können, um die Umwelt zu schonen?
Ernaux:
Es gibt einen Graben zwischen denen, die weiterhin vom Liberalismus profitieren, die in
Zukunftsberufen arbeiten, und den Leuten, die Dienstleistungsberufe haben, als
Krankenschwester, als Sekretärin und auch Arbeiter. Sie haben das Gefühl, festzustecken und
nicht voranzukommen. Die Reden, die Macron hält, sind völlig losgelöst von ihrer
Wirklichkeit. Außerdem fragt man sich: Warum erhöht er stattdessen nicht die
Kerosinsteuer?
ZEIT:
Sie selbst kommen aus der Arbeiterklasse und leben im Großraum von Paris. Fühlen Sie sich
auch vernachlässigt?
Ernaux:
Ich habe mir oft gesagt: Bis nach Paris schaffe ich es nicht. Wenn ich an bestimmte Pariser
Straßen denke, für mich ist es zum Beispiel die Rue de Sèvres mit den vielen teuren Läden,
in denen nie jemand zu sehen ist, dann weiß ich, diese Welt ist nicht für mich gemacht, ich
gehöre nicht dazu. Das Land ist absolut zweigeteilt: Es gibt die, die innerhalb der
Peripherie leben, und die, die außerhalb leben. Ich kenne junge Leute, die 40 Kilometer von
Paris entfernt leben und noch nie in der Stadt waren, die noch nie in einem Museum waren.
Paris ist einfach nicht ihre Welt.
ZEIT:
Sind die aktuellen Großthemen der Politik, der Klimawandel, das zukünftige transnationale
Europa, das ökologisch verträgliche Wirtschaftswachstum, letztlich ein Diskurs der
Reichen?
Ernaux:
In jedem Fall ist dieser Diskurs völlig abgekoppelt vom Leben der Leute. Ich finde es sehr
einleuchtend, wenn die Gelbwesten sagen, ihr kümmert euch ums Ende der Welt, aber nicht ums
Ende des Monats, an dem uns das Geld ausgeht.
ZEIT:
Ist der junge französische Präsident wirklich für diese tiefe soziale Spaltung zwischen
Stadt und Land verantwortlich? Er ist schließlich erst seit 20 Monaten im Amt.
Ernaux:
Es stimmt, der Bürger spielt in Frankreich schon lange keine Rolle mehr. Aber Macron war in
jedem Fall derjenige, der Öl ins Feuer gegossen hat. Er hat behauptet, die Parteien hätten
ausgedient, es gebe kein rechts und links mehr und keine Interessengegensätze in der
Gesellschaft. Was für ein Unsinn! Das ist doch nicht wahr, dass es keine sozialen
Unterschiede mehr gibt! Dann hat er die Vermögensteuer abgeschafft, ein Riesenfehler. Im
Juli hat er bei der Eröffnung eines Start-ups von den Leuten geredet, die “Erfolg haben”,
und “denen, die nichts sind”. Im August bezeichnete er die Franzosen als “Gallier, die sich
dem Wandel widersetzen”. Einem jungen Arbeitslosen, der sich beklagte, entgegnete er: “Ich
finde Arbeit für Sie, wenn ich nur die Straße überquere.” Darin steckt enorm viel
Verachtung.
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