/“Wohin mit den Mittelklassen?”: Im Fahrstuhl immer nach oben

“Wohin mit den Mittelklassen?”: Im Fahrstuhl immer nach oben

Stellen Sie sich vor, Sie wollen auf die Dachterrasse eines
Hochhauses. Es gibt einen Fahrstuhl, aber der ist ein bisschen kaputt: Manchmal
geht das Licht aus, und Sie stehen im Dunkeln. Manchmal hält er in Stockwerken,
in denen niemand einsteigt. Manchmal sackt er
abrupt ab, und kurz danach schießt er wieder in die Höhe. Sie wollen nur
nach oben an die frische Luft. Aber Sie sind die ganze Zeit damit beschäftigt, Ihre
Angst vor dem Absturz zu beruhigen.

In diesem Fahrstuhl, der von der Firma Aufstiegswille
gebaut wurde, nun aber vom Subunternehmer Abstiegsangst betrieben wird, steckt
die Mittelklasse. So in etwa beschreibt es die französische Essayistin Nathalie Quintane in ihrem Buch Wohin mit den
Mittelklassen?
, das in deutscher Übersetzung erschienen ist. Damit ist sie Teil einer Reihe verschiedener französischsprachiger Autorinnen und Autoren, die mal soziologisch, mal literarisch über die eigene Klassenzugehörigkeit schreiben.

Auch
Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis erkunden ihr soziales Umfeld anhand der eigenen Biografie. Deren Literatur
erzählt im Gegensatz zu Quintane vom Milieuwechsel: dem meist bildungsbedingten Aufstieg aus der
Arbeiterklasse in Kreise, in denen sie vorher nicht beheimatet waren. Quintane fokussiert nicht den Wechsel, sondern inspiziert ihre eigene, lebenslange Zugehörigkeit zur Mittelklasse. Das, was Quintane
mal gehässig und aufbrausend, mal ironisch-mitfühlend über die französische Mittelklasse
schreibt, trifft auf die deutsche Mittelschicht nicht weniger zu. 

Ein perfektes Mittelklassenprodukt

Quintane stellt gleich zu Anfang klar: Mathematisch könne man die Mittelklasse kaum
definieren. Einkommenstabellen hält sie für wenig aussagekräftig. Man erkenne die Mittelklasse an ihren Werten und an ihrer Lebensweise. Quintane
versteht sich selbst als eine Vertreterin dieser Schicht, die sie “mit
ernsthaftem Interesse, aus der Distanz und in aller Freundschaft” beurteilen
will. Oft bemüht sie alberne und kontextlose
Vergleiche, beschreibt sich selbst als “Kartoffelspezialist, der über
Kartoffeln spricht”. Die Mittelklasse ist also in erster Linie mit sich
selbst beschäftigt. Deswegen ist Quintanes Buch, wie sie schreibt, auch ein
nahezu perfektes “Mittelklassenprodukt”.

Woran es der Mittelklasse grundsätzlich fehle, ist ein
stimmiges Verhältnis zu sich selbst. Ihr fehle das richtige
Klassenbewusstsein, während oben und unten wüssten, wo sie stehen. In der Mittelklasse, schreibt Quintane, herrsche daher eine “strikte Trennung zwischen dem, was wir
leben, und dem, was wir behaupten”. Im
schlechtesten Fall habe die Moral, die man vor sich her trage, mit der wirklichen
Lebenspraxis dann kaum noch was zu tun. Quintane dekliniert die Selbstleugnung der Mittelschicht an drei Beispielen: an der Wahl des eigenen
Wohnorts, am Verhältnis zur Schule und an dem zur Kultur.

Schule, Wohnort, Kultur

Mit Schule verbinde das mittlere Milieu sozialen
Aufstieg: “Schule gleich Anstrengung und später gleich Job.” In der
Überzeugung, sich ein “besseres Leben” erarbeiten zu können, streckten die
Kinder der Mittelklasse auf der Schulbank eifrig ihre Zeigefinger in die
Höhe. Für Menschen aus den unteren und den oberen Schichten gelte dieses
Versprechen nicht. Den einen sichere nicht der Schulerfolg das Überleben, sondern
die Fabrik und der Discounter. Und die anderen müssten sich nicht so sehr sorgen, da sie wissen, dass sie den Studienplatz
in einer Elite-Uni notfalls mit Vaters Geld kaufen können.

Diese Zuspitzung steht exemplarisch für Quinantes Erzählmodus: In leicht geschilderten, oft banalen Beobachtungen schließt sie vom Kleinen aufs Große. Die berühmten französischen Eliteschulen gibt es in
Deutschland zwar nicht, das Verhältnis zur Schule ist aber ähnlich. Frankreich
und Deutschland sind die beiden Länder der OECD, in denen der Erfolg in Schule
und an Universität am meisten vom Bildungsniveau der Eltern abhängt.

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