Die Saat ging Pfingsten 2017 auf, bei einem ökumenischen Open-Air-Gottesdienst im Südwesten Berlins. Die Band trug ein harmonisch und textlich besonders schräges Stück Kirchentagspop vor: “Komm, Heil’ger Geist, mit deiner Kraft, die uns verbindet und Leeebeeen schafft …” Das erste Kind, damals noch keine drei Jahre alt, sang den ganzen Heimweg und behielt das Lied bis heute. Nach einer Auffrischung dieses Jahr zu Pfingsten brabbelte dann auch das zweite Kind mit: “Tomm, heiler Geiß …” Inzwischen habe ich längst genug von diesem Ohrwurm. Und Pfingsten fand ich seit je ein überaus merkwürdiges Fest. Aber schon klar, ich bin selbst schuld.
Wir sind ein zugleich linksliberales und traditionsprotestantisches Elternhaus – und unsere Kinder wachsen mit einem bunten und nicht immer widerspruchsfreien Strauß kultureller Angebote auf. Sie wissen, dass man zum BVB hält und wo die schwäbische Eisenbahn Station macht, sie verkosten die Freundschaftshymnen von Feine Sahne Fischfilet und polizeifreundliche Bilderbücher, sie haben schon modernen Tanz gesehen und das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Nichts aber, abgesehen vielleicht vom Kölner Karneval, begeistert sie derart nachhaltig wie alles, was mit Kirche, Glauben und Bibelgeschichten zu tun hat. Wie kann das sein?
Als Kind und Jugendlicher hatte ich nie den kürzesten Draht zu Gott. Mein Großvater war Presbyter, Kirchenvorstand heißt das in einigen Gegenden, mein Vater Religionslehrer, meine Schwester studierte auf Pfarramt. Ich war der Hedonist an der Basis – kirchliche Freizeiten, Rumhängen in Jugendtreffs, Bandproben im Gemeindekeller. Ich schätzte die Räumlichkeiten und Fahrten der Evangelischen Jugend Dortmund als Schutzzonen, in denen jene Leute Akzeptanz und Respekt fanden, die für andere soziale Kontexte wahlweise zu schlau, zu dick, zu queer, zu links oder zu schwarz waren. Die Liebe Gottes galt in der Kirche meiner Kindheit ausnahmslos allen und am meisten denen, die sie am meisten gebrauchen konnten. Eine frohe Botschaft, fand ich.
Als wir eigene Kinder bekamen, war das ein guter Anlass, in die Welt der evangelischen Gemeindehäuser zurückzukehren. Vorher war ich ihr über ein Jahrzehnt eher lose verbunden gewesen – ein Weihnachtsoratorium hier, ein Altjahresgottesdienst da, Kirchenaustritt kein Thema, die tieferen Mysterien des Glaubens aber auch nicht. Wie andere Leute Mitglied eines Vereins sind, hatte ich eine unhinterfragbare soziale Heimat, deren Codes und Personal ich kannte. Überall gab es die eifrige und etwas versponnene Kirchenmusikerin, überall die hanseatische ältere Dame, die überall mit dem Geschwader Kittelschürzenomas über Kreuz lag. Und überall gab es bei Gemeindefesten Büfetts mit drögem Rührkuchen, für den meine rheinisch-katholische Mutter nur einen verachtungsvollen Blick übrig gehabt hätte.
Meine väterliche Rückkehr ins geregelte Gemeindeleben war somit auch eine semi-ironische Reise zu mir selbst. Und ich kam schnell ans Ziel, als ich wieder evangelischen Boden betrat. Die hässlichen Furniertische im hübschen Pfarrsaal, die herzliche Pfarrerin in der halb leeren Kirche, der sympathische Mangel an Perfektion: Mit den Kindern hatte ich plötzlich einen Anlass, wieder mehr Zeit in einem altvertrauten Milieu zu verbringen. Ich war selig. Bis meine Kinder es auch waren.
Dabei ging es nie nur um das eine blöde Lied. Grundsätzlich entwickelte das ältere Kind während seines dritten Lebensjahrs eine klare Vorliebe für alles, was mit Kirche zu tun hatte. Vorher hatte es sich in kleinkindtypischer Indifferenz überall mit hinnehmen lassen, zum Turnen, ins Familienzentrum, in den Park. Jetzt aber begann es nach der Kita zu fragen: “Kirsse? Ja? Ja?” Einmal in der Kinderkirche angekommen, zeigte es fantastisches Benehmen und gigantische Konzentrationsspannen. Zu Hause wurden die erdfarbenen Bibel-Bildergeschichten von Kees de Kort vor- und rückwärts geblättert. Mich nervte vor allem das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg, in dem die Weinleser alle den gleichen Lohn bekommen, obwohl einige viel mehr gearbeitet haben als andere. “Die hätten den Weinbergbesitzer lieber mal enteignen sollen”, murmelte ich jedes Mal beim Buchzuschlagen – und freute mich über die ratlosen Gesichter.
Ich bin kein Vorbild im Glauben und bin es umso weniger, je mehr die Kinder sich bekennen beziehungsweise: interessieren. Und vielleicht ist das schon Teil des Mysteriums. Bibel, Jesus, Kinderkirche, das ist ihr Ding, ihr Schutzraum, in den sie sich nach trubeligen Tagen an einer Integrationskita im Neuköllner Süden gern zurückziehen. Ein bisschen Ausgleichs-Bullerbü, nur halt mit Daniel in der Löwengrube statt Schlafen im Heu.
Wobei, sonderlich Bullerbü sind diese Geschichten natürlich nicht, in denen immer wieder Menschen ernsthaft in Gefahr geraten (Daniel, David, Jesus) oder auch konkretes Leid erfahren (Josef, Lot, abermals Jesus). Dass Kinder, die den kleinen Eisbären Lars nicht ertragen, weil die Frage nach dem Verbleib seiner Eltern nie geklärt wird, die Geschichte von Moses im Schilf lieben, ergibt keinen Sinn, sollte es hier nur um Rückzug und Behaglichkeit gehen.
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