/Hartz IV: “Die wenigsten Hartz-IV-Bezieher sind faul”

Hartz IV: “Die wenigsten Hartz-IV-Bezieher sind faul”

13 Jahre nach Einführung diskutiert die Politik wieder einmal lebhaft über Hartz
IV. Soll der Staat Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich ein Grundeinkommen gewähren, ohne zu prüfen, ob sie tatsächlich bedürftig sind? Andreas Peichl leitet das Ifo-
Zentrum für Makroökonomik in München und analysiert die Folgewirkungen von Hartz IV. 

ZEIT ONLINE: Herr Peichl, die Grünen und die SPD haben erklärt, sie wollen Hartz IV überwinden. Die FDP will ein liberales
Bürgergeld, selbst die CDU denkt über eine generelle Reformierung nach. Schleicht sich jetzt das Grundeinkommen in Hartz IV
ein

Andreas Peichl: Die Leistungen aus
Hartz IV, also das Arbeitslosengeld II, aber auch Wohngeld und
Kinderzuschlag waren schon immer eine Art Grundeinkommen, wenn auch
kein bedingungsloses. Die aktuellen Vorschläge zur Reformierung von
Hartz IV setzen ebenfalls eine Bedürftigkeit voraus, die
nachgewiesen werden muss. Das ist in einem Sozialstaat auch nicht
anders zu vermitteln, schließlich werden Steuermittel umverteilt.
Wer Steuern zahlt, akzeptiert eine Umverteilung eher, wenn der Bezug
von Sozialleistungen an bestimmte Bedingungen gebunden ist. Darum
haben auch die heutigen Sanktionen, die das Hartz-IV-System vorsieht,
eine Berechtigung. Studien zeigen, dass die bloße Existenz von
Druckmitteln wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist.

ZEIT ONLINE: Wer Steuern zahlt, will
nicht, dass andere faul in der sozialen Hängematte liegen?

Peichl: Anscheinend ist das so.
Problematisch ist, dass viele Jahre lang genau dieses Menschenbild
propagiert worden ist. Dabei stimmt das nicht. Die Sanktionsquote
liegt bei etwa drei Prozent, zeigt die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Die wenigsten Hartz-IV-Bezieher sind faul oder nicht an
Arbeit interessiert. Das Gegenteil ist der Fall: Die meisten Menschen
wollen arbeiten. Aber das heutige System verhindert das.

ZEIT ONLINE: Warum?

Peichl: Empfängerinnen und Empfänger
von Transferleistungen werden für zusätzlich verdientes Geld
bestraft. Denn Leistungen aus der Grundsicherung werden ebenso wie
das Wohngeld und der Kinderzuschlag mit steigendem Einkommen
abgeschmolzen oder ganz gestrichen. Zugleich fallen mit eigenem Lohn
sehr schnell Steuern und Sozialabgaben an. Rechnet man beides
zusammen, die Abgaben und die Kürzung von Sozialleistungen,
überschreitet die Grenzbelastung – das ist der Teil des zusätzlichen
Einkommens, der an den Staat abgegeben werden muss – die
100-Prozent-Marke. Zum Vergleich: Der Spitzensteuersatz bei der
Einkommenssteuer beträgt inklusive Soli gut 44 Prozent. Davon können
Transferbezieher nur träumen.

Und so kommt es zu der widersinnigen Situation, dass, obwohl
zusätzliches Geld verdient wird, einkommensschwache Familien weniger
Netto vom Brutto in der Tasche haben, als wenn sie ganz auf Arbeit
verzichten und nur von Sozialleistungen leben würden.

ZEIT ONLINE: Sie haben diese
Grenzbelastung in verschiedenen Simulationsrechnungen genau
ermittelt. Was haben Sie dabei festgestellt?

Peichl: Dass es bestimmte Sprungstellen
gibt, bei denen die Grenzbelastung in der Spitze sogar bei über 250
Prozent liegt. Wir haben beispielhaft durchgerechnet, wie sich die
heutigen Transferentzugsraten auf eine Alleinerziehende mit zwei
Kindern auswirken. Solange sie Hartz IV bezieht, kann sie bis zu 100
Euro im Monat hinzuverdienen. Darüber hinaus darf sie von jedem
zusätzlichen Euro aber nur 20 Prozent, also 20 Cent, behalten. Das
entspricht einer Grenzbelastung von 80 Prozent. Diese steigt mit
jedem weiteren Euro an. Wenn sie mit einer Teilzeitbeschäftigung auf
ein Einkommen von 1.700 bis 2.350 Euro brutto im Monat kommt, sinkt
ihr Nettoeinkommen so stark, dass sie weniger Geld in der Tasche hat,
als wenn sie gar nicht arbeiten ginge.

Erst wenn diese zweifache Mutter mehr
als 2.550 Euro brutto im Monat verdient, kommt sie auf das gleiche
verfügbare Einkommen wie mit rund 1.700 Euro brutto. Aber: Ab dieser
Einkommenshöhe stünden dieser Frau mit ihren zwei Kindern auch
keine Sozialleistungen mehr zu. Um auf dieses Gehalt zu kommen,
müsste sie bei einer 39-Stunden-Woche einen Stundenlohn von 14,79
Euro haben. Wir sprechen hier also über Tätigkeiten, die weit über
dem Mindestlohn liegen.

ZEIT ONLINE: Die CDU hat angeregt, die
Zuverdienstgrenzen anzuheben. Würde das die Grenzbelastung
verringern?

Peichl: Mit höheren Zuverdienstgrenzen
verschiebt sich die Problematik eigentlich nur, wenn man das System
nicht grundsätzlich ändert. Höhere Zuverdienstgrenzen fördern
außerdem Kleinst- und Minijobs, aber nicht
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

ZEIT ONLINE: Und wenn man die
Grenzbelastung auf generell 50 Prozent senkt?

Peichl: Das käme quasi der Einführung
eines bedingungslosen Grundeinkommens gleich.

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