/SS-Verbrechen: Ohne Strafe, ohne Reue

SS-Verbrechen: Ohne Strafe, ohne Reue

Karl M. verbringt die
meiste Zeit in der Küche, dann muss er nur noch einen Raum heizen. Er geht kaum
noch hinaus mit seinen 96 Jahren. Dreimal am Tag kommt der Pflegedienst. Wenn
jemand an der Tür klingelt, wirft  M. den
Schlüssel aus dem Küchenfenster im ersten Stock, dann muss er keine Treppen
steigen. Doch neulich hat er eine Ausnahme gemacht und ist doch losgegangen, als
ihn die Herren aus Fretterode eingeladen hatten.

Sie haben ihn mit dem
Auto abgeholt, im niedersächsischen Nordstemmen, und sind mit ihm in ein kleines
Dorf im thüringischen Eichsfeld gefahren. Dort hat der bekannte Neonazi und
NPD-Bundesvize Thorsten Heise ein Anwesen, auf dem er regelmäßig
Kameradschaftsabende veranstaltet. Am 8. November lud er ein zu einem
“Zeitzeugengespräch”. Rund 100 Neonazis aus ganz Deutschland kamen, um
Karl M. zuzuhören. Denn M. ist ein ehemaliger SS-Mann, war Mitglied der
SS-Division Leibstandarte Adolf Hitler und später Unterscharführer in der 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend. “Die Bude war proppenvoll da”, erzählt M. “Jetzt kommen sie
alle, aber damals, als sie mich einbuchten wollten, da war keiner da.”

Mit damals meint M. die
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Franzosen Männer wie ihn suchten, um sie anzuklagen und
zu verurteilen – ihn sogar zum Tode. So steht es im Urteil eines französischen Gerichts
in Lille, das am 2. August 1949 gefällt wurde. Verurteilt wurde M. wegen
Mittäterschaft an einem Massaker. Da er sich aber in Deutschland aufhielt und
die Bundesrepublik ihn nicht auslieferte, wurde das Urteil nie vollstreckt.

Der Prozess hatte
ergeben: Karl M. ist ein Kriegsverbrecher. Er trägt Mitschuld an dem, was fünf
Jahre zuvor im kleinen französischen Dorf Ascq unweit von Lille passiert ist, in
der Nacht vom 1. auf den 2. April 1944.

Karl M. in SS-Uniform
© ARD Panorama

Diese Nacht veränderte
das Leben von Rolande Bonte, geborene Couque, für immer. Sie war damals zehn
Jahre alt, heute ist sie 85. “Ich schlief schon in unserem Kinderzimmer, da
hörte ich plötzlich Lärm von der Treppe her”, erzählt sie und zeigt mit der
Hand zum Treppenhaus. Sie wohnt noch immer im Haus ihrer Eltern. “Ich hörte die
schweren Stiefel raufmarschieren – bumm, bumm, bumm – und ich oben in meinem
Bett dachte: Was ist das? Was ist das?”

Rolande Bonte wohnt in
der Straße am Bahnhof, direkt gegenüber der Gleise. Dort war in jener
Aprilnacht 1944 ein Zug entgleist. Résistance-Kämpfer sabotierten einen Panzerzug
der SS. Darin saßen rund 400 SS-Männer der 12. Division Hitlerjugend – die
Division von Unterscharführer Karl M., damals 21 Jahre alt.

Auch er erinnert sich
noch genau an diesen Tag. Als die Panzerdivision von Belgien in die Normandie
verlegt werden sollte und ihr Zug im grenznahen Ascq plötzlich nicht mehr vorankam. Niemand war zu Schaden gekommen, so steht es im SS-Bericht: drei
entgleiste Güter-Waggons, ein platter Panzer-Reifen, ein kaputtes
Transportergetriebe. Doch der Kompaniechef, Obersturmführer Walter Hauck,
tobte. “Dann hat der Chef gesagt: Nimm dir ein paar Mann und bringt mir die
Leute”, erzählt M. Der Befehl sei gewesen: “Bring die Männer mit und säubere
die Straße. Junge Bengels, bring sie mit. Einer wird es schon gewesen sein.”

Es sind diese SS-Männer,
die Rolande in ihrem Kinderbett die Treppe hochpoltern hörte. “Dann sind sie in
unser Zimmer gekommen. Sie haben alle Bettdecken weggezogen, um zu sehen, ob da
ein Mann schläft. Aber sie fanden nur mich und meine beiden kleinen Brüder,
also sind sie wieder abgezogen.” Was die kleine Rolande nicht wusste: Die
Deutschen gingen auch ins Elternschlafzimmer und nahmen ihren Vater mit. Clovis Couque, Eisenbahner, 31 Jahre alt.

Die SS-Männer trieben
ihn und Dutzende andere Dorfbewohner zum Bahnhof. Allesamt unbewaffnete
Zivilisten, zwischen 15 und 75 Jahre alt. Viele von ihnen hatten keine Zeit,
sich anzuziehen. “Ob einer im Schlafanzug da rumläuft, interessiert mich doch
nicht,” erzählt Karl M. Am Bahnhof hätten die Männer versucht zu fliehen,
deshalb hätten die SS-Männer sie erschossen. “Ja was sollste denn machen?”,
fragt er. “Wenn ich sie arretiere, dann sollen sie bleiben, bis es abgedonnert
ist – und wenn sie weglaufen wollen, dann muss ich als Bewacher schießen. Und
wenn ich sie treffe, haben sie Pech gehabt.” Das ist seine Wahrheit. Die
französischen Richter aber sahen in der Tat ein blutiges Massaker.

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