/Fankultur: “Hooligans waren ein Vorläufer von Pegida”

Fankultur: “Hooligans waren ein Vorläufer von Pegida”

Michael Gabriel, 54, ist seit 2006 Leiter der nationalen Koordinationsstelle der Fanprojekte (Kos), die an diesem Mittwoch in Berlin mit einem Kongress den 25. Geburtstag feiert.

ZEIT ONLINE: Herr Gabriel, herzlichen Glückwunsch. Was war das für eine Zeit damals, 1993, bei der Gründung?

Michael Gabriel: Es war die Zeit kurz nach den großen Katastrophen im Fußball. In Heysel kamen 1985 39 Fans nach Ausschreitungen ums Leben. In Hillsborough starben bei einer Massenpanik 1989 96 Zuschauerinnen und Zuschauer. Zu fast allen deutschen Länderspielen kamen viele, manchmal mehr als tausend Hooligans. Zudem waren kurz nach der Wiedervereinigung die staatlichen Strukturen im Osten Deutschlands sehr fragil. Im November 1990 starb Mike Polley, ein Fan des BFC Dynamo Berlin, beim Spiel in Leipzig durch Polizeikugeln. 1991 wurde das Europapokalspiel zwischen Dynamo Dresden und Roter Stern Belgrad nach Randalen abgebrochen. Der deutsche Fußball stand massiv unter Druck. Sogar eine Fünfjahressperre, wie in England, schien möglich. 

ZEIT ONLINE: Die klassische deutsche Antwort wäre die harte Hand gewesen. 

Gabriel: Man wusste seit Kurzem jedoch aus anderen Kontexten und aus der Wissenschaft über die Grenzen des repressiven Umgangs mit solchen Problemen. Und mit den sozialpädagogischen Fanprojekten unter anderen in Bremen, Frankfurt oder Hannover hatte man sehr gute Erfahrung gemacht. Da war die Zeit reif für eine nationale Koordinationsstelle, deren Aufgabe auch ist, ein bundesweites Netz aufzubauen. Damals existierten zwölf Fanprojekte, heute sind es 59. 

ZEIT ONLINE: In den Achtzigern war der Fußball geprägt von Rassismus und Rechtsextremismus, Affenlauten und Bananenwürfen. Wie ist Ihre Erinnerung? 

Gabriel: Auf den Rängen gab es eine klare Dominanz rechter Ideologien. Teilweise hielten Fangruppen Verbindungen in die Neonaziszene. Viele waren gewaltaffin. Hinzu kam, dass etwa nur halb so viele Besucher in die Bundesligastadien kamen wie heute, auch deutlich weniger Frauen. Die Vertreter einer offenen Fankultur waren in der Minderheit und wurden nicht ernst genommen. Es ist unser größter Erfolg, diejenigen dauerhaft unterstützt zu haben. 

ZEIT ONLINE: Wie verhält es sich heute in den Kurven? 

Gabriel: Umgekehrt. Natürlich gibt es auch heute noch Konflikte. In Aachen, Dortmund, Duisburg oder Braunschweig haben rechte die weltoffenen Gruppen bekämpft. Doch die Gegenkräfte sind heute in der Mehrheit. Auf rassistische Sprechchöre wird direkt reagiert, in nahezu jedem Stadion im deutschen Profifußball. 

ZEIT ONLINE: Was waren die Meilensteine in diesem Vierteljahrhundert? 

Gabriel: Es gab einige. Sicher die Gründung von Baff 1993, dem Bündnis antifaschistischer, heute aktiver Fußballfans, das gegen Diskriminierung und Rassismus kämpft. Der FC St. Pauli hat große Verdienste, weil er mit seinen Grundsätzen ins Fußballmilieu hineinwirkt. Theo Zwanziger leistete als DFB-Präsident sehr wertvolle Arbeit gegen Homophobie und Antisemitismus. Vor allem aber haben die Fanprojekte und die Fans selbst den Prozess dauerhaft belebt, etwa wenn es in den Vereinen niemanden gab, der für ihre Themen offen war. Dynamo Dresden zum Beispiel hat lange weggehört, wenn es um ihre Kurve ging. Heute macht der Verein das viel besser. 

ZEIT ONLINE: Die Verbände und Vereine werden manchmal dafür kritisiert, dass ihnen der Fan nicht wichtig sei. 

Gabriel: Dagegen will ich sie in Schutz nehmen, zumindest gegen das Pauschalurteil. Die vielen Fanprojekte gibt es nur, weil neben der öffentlichen Hand auch der Fußball fördert. Rund 13 Millionen Euro Kosten fallen an pro Jahr, die Hälfte davon tragen DFB und DFL. Dieses bemerkenswerte Engagement sollten die Verbände offensiver herausstellen. Und die Vereine übernehmen heute gesellschaftliche Verantwortung, gute Beispiele sind Werder Bremen, Borussia Dortmund, auch Dynamo Dresden. Sie dafür sensibilisiert zu haben ist ein weiterer Erfolg der Fanprojekte. 

ZEIT ONLINE: Wie sieht deren Arbeit im Alltag aus? 

Gabriel: Die Kollegen aus den Fanprojekten machen klassische Sozialarbeit. Zum Beispiel reisen sie, sobald das Vertrauen da ist, mit zu Auswärtsspielen und hören den Fans zu oder helfen ihnen, indem sie ihnen Anlaufstellen vermitteln. Es geht um Beruf, Familie, Drogen, Schulden, Gesetzeskonflikte, einfach alles. Sie leisten aber auch politische Bildung, etwa Fahrten nach Auschwitz oder Dachau, oder schaffen internationale Begegnungen. Am wichtigsten: Sie begleiten Lebensläufe. Ich erinnere mich an den 20. Geburtstag des Fanprojekts Leverkusen. Da hielten drei Fans aus drei Generationen Reden. Alle sagten, sinngemäß, sie wüssten nicht, wo sie heute im Leben ohne den Leiter des Fanprojekts ständen. Das war berührend. Ich wünschte, dass Politiker das öfter hören würden. 

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