/“Die katholische Schule”: Der Mann als unheilbare Krankheit

“Die katholische Schule”: Der Mann als unheilbare Krankheit

Nackte, weißhäutige Wirbeltiere mit staksigen Beinen, pickligem Rücken,
Hühnerbrust und viel zu langen Armen – so präsentieren sich die Schüler des katholischen
Jungengymnasiums San Leone Magno in Rom am Beckenrand ihres Schwimmbads. Sie sind vierzehn
Jahre alt und kämpfen mit ihren Körpern. Selbst aus den brünstigsten Draufgängern werden bei
dieser Gelegenheit ungelenke Herumhampler, die krampfhaft versuchen, den mühselig erworbenen
Respekt bei ihren kaulquappenhaften Bewegungen nicht zu verlieren. Die größte Angst: als
Mädchen zu gelten. “Männlich geboren zu werden ist eine unheilbare Krankheit”, gibt der
Ich-Erzähler und Hauptheld freimütig zu. Der italienische Autor Edoardo Albinati, Jahrgang
1956, stellt in seinem Kolossalroman von knapp 1300 Seiten den Mann als Spezies in den
Mittelpunkt und liefert nicht nur eine autobiografische Erinnerungsrecherche, sondern auch
eine anthropologische, soziologische, politische, psychoanalytische, religionsphilosophische
und kriminologische Deutung männlicher Erziehung.

Albinati spart nichts aus. Sein Roman bietet unterhaltsame Porträts von Lehrern, regelrechte Novellen, Genrebilder der bürgerlichen Familie, Abhörprotokolle, Vignetten einsamer Mütter, architekturgeschichtliche Erläuterungen, Bibelkunde, Traumsequenzen, Auszüge aus Tagebüchern, Liebesgeschichten mit saftigen Sexszenen, Aphorismen, Scheidungsdramen, Listen von Filmen und sogar Kurzkritiken literarischer Werke. Er lässt seinen Protagonisten, der den Namen und etliche Eckdaten mit dem Autor teilt, alles aufbieten, was sich erzählen lässt. Das Ergebnis ist ein manischer innerer Monolog und einer der aufregendsten Romane der vergangenen Jahre.

Sein Hauptschauplatz ist die titelgebende “katholische Schule” respektive das private Gymnasium SLM, das im Rückblick zu einer Art Forschungslabor wird. Wie bei einer Versuchsanordnung operiert Albinati mit Abkürzungen: Zu SLM kommt das QT hinzu, das Quartiere Trieste, in dem die Schule liegt und in dem ein Großteil der handelnden Figuren lebt – ein gediegenes römisches Wohnviertel mit eindrucksvollen Bauten und funktionalen Mietshäusern.

Die dritte Komponente und zugleich der Motor des gesamten Unterfangens ist das VvC: das Verbrechen von Circeo, eine der grausamsten Gewalttaten der Nachkriegszeit, die landesweit für Erschütterung sorgte. Drei noch jugendliche Täter lockten im September 1975 eine Siebzehnjährige und eine Neunzehnjährige in ein Ferienhaus am Monte Circeo, einer Gegend, in der großbürgerliche Römer gern den Sommer verbringen, und quälten, vergewaltigten und folterten die Mädchen so lange, bis eines zu Tode kam und das andere nur knapp überlebte. Zwei der drei Täter waren ehemalige Schüler des katholischen Gymnasiums, der dritte war der Bruder eines Klassenkameraden der Opfer.

Edoardo Albinati, im Brotberuf Italienischlehrer in der Strafanstalt von Rebibbia und Verfasser etlicher sehr guter Bücher, zu denen auch eines über das Gefängnis gehört, geht in diesem großen epischen Roman der Frage nach, was es bedeutete, im postfaschistischen Italien, geläutert vom Wirtschaftswunder, elektrisiert von 1968, heranzuwachsen. Er erzählt davon, wie der Katholizismus und die Ideologie der Familie mit ihrer patriarchalen Struktur, jahrhundertelang die Grundfesten der Gesellschaft, in die Krise gerieten und wie es dem bürgerlichen Milieu nicht gelang, seine destruktiven Anteile zu domestizieren.

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