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US-Romane: Trump Country

Zwei Halbwaisen, beide 14 Jahre alt. Pearl haust mit ihrer Mutter in einem
Mercury Topaz Automatic, der auf platten Reifen in einem Trailerpark in Florida steht. Und
Turtle heißt die andere,
turtle
wie Schildkröte, aber leider fehlt ihr, die allein
mit einem gewalttätigen Vater auf einer Farm am Pazifik lebt, ein Panzer, unter dem sie Schutz
finden könnte.

An diesen beiden Kinderleben entlang führen Jennifer Clement und Gabriel Tallent ihre Leser in eine Gefahrenzone, die aufmerksame Zeitgenossen als Hillbilly Country kennen, das große Reservoir der Abgehängten, der für den Amerikanischen Traum verlorenen Seelen, politisch betrachtet ein fanatisiertes, verhetztes Terrain: Trump Country. In den amerikanischen Wahlnächten leuchtet es auf in alarmierendem Rot. Bei Tage streifen Sozialwissenschaftler wie Arlie Russell Hochschild oder der Buchautor J. D. Vance durch die Ödnis, um zu erkunden, wie Menschen ticken, die am Rande von Industriebrachen und abgewrackten Träumen ihr Leben fristen, um zu verstehen, wieso sich in Amerika so viel Gewalt verdichtet. In den Nachrichten poppt diese Welt auf in Push-Meldungen über Massaker, gerade waren es wieder zwölf Tote, Barbesucher in Thousand Oaks, Kalifornien, vor ein paar Wochen 17 Schüler und Lehrer in der Marjory Stoneman Douglas High School in Florida und elf Tote in der Synagoge von Pittsburgh, letztes Jahr 58 Tote in Las Vegas – Statistiken des Horrors aus einem Land, wo auf 100 Einwohner 120,5 private Waffen kommen, was sich zu 393 Millionen addiert.

Waffen spielen in diesen beiden Romanen ihre eisige Macht aus. Turtles Vater hat mit seinem kleinen Mädchen die ersten Schießübungen veranstaltet, als sie sechs Jahre alt war. Die Fenster der Küche sind zugenagelt mit Schießscheiben; wenn Turtle ihre Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht hat, zwingt ihr Vater sie, auf eine Spielkarte zu zielen, die er neben sein Gesicht hält. Als Pearls Mutter, die mit 17 schwanger wurde und die wie ihr Kind ein winziges träumerisches Wesen ist, sich einem als Cowboy daherkommenden Betrüger hingibt, sucht Pearl Wärme im Trailer einer Nachbarin. Dort sitzt sie, während ihre Mutter es mit ihrem Typen auf dem Rücksitz des Mercury treibt, und säubert Waffen, die ein Pfarrer unter dem Vorwand, die Welt sicherer zu machen, eingesammelt hat, um sie zu verticken. Mit ihrer Schülerschrift schreibt sie ordentliche Etiketten, eine typische Inventarliste lautet: “ein Smith&Wesson-M&P-Sturmgewehr, ein DPMS-Panther-Arms-Sturmgewehr, eine Smith&Wesson-Handfeuerwaffe, eine Llama-Handfeuerwaffe, ein Glock-Pistole, eine Smith&Wesson-Pistole, eine Taurus-Pistole, ein Del-Ton-Sturmgewehr, eine .40er-Kaliber-Halbautomatik-Pistole, eine .45er-Kaliber-Glock, eine Beretta-Pistole, eine Smith&Wesson-Halbautomatikpistole, eine Remington-Flinte, ein Bushmaster-XM15-Gewehr, eine .22er Kaliber-Savage-Mark-II-Gewehr, eine Springfield-Armory-Halbautomatik-Handfeuerwaffe” et cetera. Liest sich wie das Polizeiprotokoll einer Beschlagnahmung. Ist aber keines, ist auch kein Sachbuch. In diesem Roman, der den Titel
Gun Love
trägt, zeigt sich die überragende Leistung einer fiktionalen Erzählung in der Erfassung dieses Milieus. Mit der Auflistung der Waffen, gerade in der Exzessivität, verdichtet Jennifer Clement, 1960 in Connecticut geboren, mit Expertise, Wut und kaltem Hohn den bösen Hintergrund ihres Romans, der auf der Oberfläche leicht hingetupft im plappernden Jargon der kleinen Heldin daherkommt.

“Meine Mutter war eine Tasse Zucker, man konnte sie jederzeit ausleihen”, so süß geht es los, schon im ersten Satz. Und weiter und weiter, “sie ließ sich aufwühlen wie ein Milkshake, und immer von den falschen Leuten”. Kleine, atemlos hingepustete Sätze, Schlagertextsätze. Es ist der Endlos-Monolog eines Kindes, das seine Kindmutter abgöttisch liebt und nicht verhindern kann, dass sie im Kugelhagel eines durchgeknallten Jungen zu Boden geht.

Den englischen
Guardian

hat das Buch an eine Mordballade von Johnny Cash erinnert, das ist natürlich Unsinn. Die Stimme, in der Jennifer Clement erzählt, hat nichts von diesem maskulinen Geraspel, da ist eher die süße Mattigkeit eines Teenies, der mühsam Haltung bewahrt und aus dem die Eindrücke und Gedanken und Trivialitäten nur so herauspurzeln. Clement, die schon ein Buch über in Mexiko gekidnappte Mädchen geschrieben hat, navigiert oft knapp am Kitsch vorbei, da ist eine Sentimentalität, die gelegentlich nervt, aber nun ja, dies ist wohl der Preis dafür, dass die Erzählung im Radius einer Schülerin verharrt. Ihre Mutter, fantasiert Pearl, lief in die tödlichen Kugeln, “als liefe sie an einem heißen Julitag in Florida in das Wasser einer Sprinkleranlage: mach mich nass mach mich nass erschieß mich erschieß mich” …

Clement findet Bilder, in denen sich Verlorenheit apokalyptisch verdichtet – Kinderfüße, die über den von Krokodilen wimmelnden Brachen baumeln. Der mit Insektiziden ausgeräucherte Innenraum des Mercury, in dem sich Mutter und Tochter aneinanderschmiegen, zwei Gestrandete, wie wir sie von den Schwarz-Weiß-Fotos der Großen Depression der Dreißigerjahre kennen, Bildern von Dorothea Lange und anderen Fotografen, die durch diesen Text wie Archetypen auf einem alten Palimpsest aufscheinen.
God bless America!

Auch Gabriel Tallent nimmt die große kulturelle Tradition seines Landes auf. Dies ist ein selbstbewusster Debütroman, und er ist in Amerika eingeschlagen wie eine Explosion. Verstörend! Brillant! Erschreckend, grausam, so die stammelnden Rezensionen. “Das Buch ist hässlich, schön, entsetzlich und erhebend”, schrieb Stephen King
.
Ein verdienter Triumph. Tallent setzt ein mit der Beschreibung des heruntergekommenen Farmhauses, der Vater und seine Tochter kommen am Abend zu Hause an. In drei Sätzen ist das Setting in der Wildnis skizziert. Tallent bleibt dicht an seinen Figuren, wir hören den Hall der Boots auf den Dielen, sehen das Spritzen des Fetts in der Pfanne, beobachten, wie Martin, der Vater, das Öffnen der Bierflasche zelebriert, während das Kind Schießübungen macht. Keine 30 Seiten, und der Vater hat Turtle wie Beute in sein Schlafzimmer geschleppt. Quälende, so nie beschriebene Gewalt.
My Absolute Darling
heißt der Roman auf Englisch,
Mein Ein und Alles,
es ist eine furchtbare Drohung.

Dies ist kein Buch über sexuellen Missbrauch, das Thema ist gewalttätige Dominanz, die sich auch im Sexuellen austobt. Tallent skizziert sehr präzise einen Männertypus, der seine Unsicherheit durch eine Brutalität erstickt, die sich in jeder Geste verrät. Und selten gab es eine so schmerzliche Darstellung der von Scham, Schuld und Liebesbegehren durchdrungenen Gefühlslage des Opfers, da ist eine psychologische Verdichtung, die Übelkeit erregen kann. Tallent kennt seinen Faulkner, der etwa in
Light in August
in ähnlicher Weise häusliche Szenen auf fast unerträgliche Weise in Brutalität verortet. Dieser junge Autor hebt den Blick aus diesem einsamen Haus und führt ihn über die Gärten in die Wälder bis zum Meer hinunter und auf die Brandung hinaus, in diesem Buch liest man schillernde Naturbeschreibungen, langsam und glanzvoll entfaltet, wie sie vielleicht nur in einem Land möglich sind, dessen Fauna schon ein Henry David Thoreau oder ein Walt Whitman skizziert haben. In diesen Beschreibungen liegt eine fast wissenschaftliche Präzision, andererseits verdichten sie poetisch eine Intensität von Gefühlen, wie es schon die große amerikanische Autorin Willa Cather gekonnt hat, die in ihrem Roman
Einer von uns
einen jungen Helden auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs schickt, wo er sich vor dem Grauen in seitenlange zärtliche Naturbetrachtungen flüchtet – Pulitzerpreis 1923.

Gabriel Tallent setzt jedenfalls alles auf eine Karte, in diesem Roman, der auch ein Brutalo-Western ist, ein Pageturner, prall bestückt mit Mord und Liebe, Blut und Samen. Er geht fast gut aus, wie auch Jennifer Clements Roman fast gut ausgeht. Übrigens mit dieser kleinen Zugabe an politischer Ironie, dass Pearl, dieses winzige, albinoesk wirkende Wesen, nur vor dem amerikanischen Unterschichtsdesaster gerettet werden kann, indem sie illegal die mexikanische Grenze überquert, ein Flüchtling aus dem Norden auf dem Weg in den Süden.

Jennifer Clement: Gun Love. A. d. Engl. v. Nicolai von Schweder-Schreiner; Suhrkamp, Berlin 2018; 252 S., 22,– €, als E-Book dito

Gabriel Tallent: Mein Ein und Alles. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner; Penguin, München 2018; 480 S., 24,– €, als E-Book 18,99 €

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