/Bernardo Bertolucci: Ein Revolutionär der Schaulust

Bernardo Bertolucci: Ein Revolutionär der Schaulust

Als Isabelle und Matthew nachts von ihrem Rendezvous
heimkehren, machen sie eine Entdeckung, die ihnen den Atem verschlägt. Trümmer
türmen sich mitten auf der Straße zu einem großen Haufen. Sie sind ein
Überbleibsel von Chaos und Verheerung, deren Ursache die Protagonisten von
Bernardo Bertoluccis Die Träumer aber vorerst nicht erraten.

Sie können nicht wissen, dass dies die Überreste von
Barrikaden sind und in Frankreich in diesem Mai 1968 ein Generalstreik
herrscht, den auch die Müllabfuhr befolgt. Die Revolte bleibt ein
atmosphärischer Hintergrund, rote Fahnen sind in dem erotischen Kammerspiel nur
ganz selten zu sehen. Ihre Wohnung haben Matt und Isabelle seit Wochen nicht
mehr verlassen; fernzusehen verbietet sich, da ihre Leidenschaft exklusiv dem
Kino gehört. Es wirkt wie eine ausgeschlagene Verantwortung, wenn man die
großen, historischen Ereignisse verpasst, weil man mit seinen eigenen, kleinen
Problemen beschäftigt ist. Aber in Die Träumer werden die Lebenslektionen im Kino gelernt.

Privates so erzählen, dass Politisches zum Vorschein kommt

Den Pariser Mai konnte der italienische Filmemacher selbst
nicht miterleben, weil er zu dieser Zeit in Rom drehte. Dennoch trägt Die
Träumer
das Gütesiegel persönlicher Erfahrungen. Als Bertolucci im Alter
seiner Filmfiguren war, wurde er zum Stammgast der Cinémathèque française. In
der Obhut des Filmmuseums erlebte er mit, wie in den 1960er-Jahren in Paris der
Blick auf das Kino neu erfunden wurde. Bertolucci hätte ein Fresko der
Studentenrevolte drehen können, entschied sich aber für eine intime
Perspektive. Das ist eine Herausforderung, auf die sich dieser Regisseur immer
wieder einließ: vom Privaten so zu erzählen, dass das Politische zum Vorschein
kommt. Das Kino war für ihn ein Instrument, engagiert an der Welt
teilzuhaben.  

Der Widerspruch zwischen Individualität und Konformität und
das transgressive Spiel mit der Sexualität ziehen sich seit seinem Regiedebüt La Commare secca von 1962, worin er versucht, den Neorealismus mit dem Film Noir
zu vermählen, durch sein gesamtes Werk. Schon mit 15 Jahren drehte er seinen
ersten Kurzfilm, mit Anfang 20 veröffentlichte er einen ersten Gedichtband.
Endgültig zum Kino kam der in Parma geborene Regisseur, als ihn sein Vater, der
Dichter und gelegentliche Filmkritiker Attilo Bertolucci, mit Pier Paolo Pasolini bekannt machte. Internationales Aufsehen erregte er 1964 in Cannes mit
der politischen Parabel Vor der Revolution. Darin bewies er eine
scharfsichtige Zeitgenossenschaft, verzierte seine gesellschaftlichen Befunde
aber zugleich mit Zitaten und Verweisen. Bertolucci verstrickte das Kino von
Anfang an in eine schillernde Zwiesprache mit den anderen Künsten, der
Architektur, Malerei, Literatur und Musik. Die Reflexion über die Bedingungen
seines Mediums setzte er unablässig fort – etwa, wenn er Paul Bowles den Autor
der Romanvorlage von Himmel über der Wüste aufmerksam zusehen ließ, wie sich
seine literarischen Figuren verselbstständigen, neue Gestalt annehmen im Spiel
der Darsteller und durch den Blick der
Kamera.

Sein Kino hielt die Kluft zwischen Inhalt und Stil wacker
aus. In seinen besten Zeiten gelang es diesem redlichen Manieristen, formale
Experimente mit opulenten Schauwerten zu vereinen. Er war ein Meister des
filmischen Widerhalls, der es verstand, Ideen in Symbole zu übersetzten – welcher andere Regisseur hätte Platons
Höhlengleichnis derart bestrickend in eine Metapher für das Kino verwandelt, wie
er es in Der große Irrtum tat? Mit ihm, einem der ästhetisch
einflussreichsten Filme überhaupt, wandte er sich 1970 visueller Opulenz und
einer zuweilen opernhaften Melodramatik zu. Mit Der letzte Tango in Paris
wurde Bertolucci international zu einer Marke; oft wurde ihm seitdem das Kalkül
mit skandalträchtigen Stoffen vorgeworfen.

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