/Moral: Ihr habt ja recht!

Moral: Ihr habt ja recht!

Eisiges Schweigen beim Elternabend in der Kita unserer Tochter. Eine
Mutter, sie hieß nicht Susanne, hatte gerade eine Frage zum Thema “Grenzen setzen” gestellt.
Ein Klaps ab und an sei doch okay? Sie muss die Blicke gespürt haben, denn sie schob gleich
etwas nach: “Natürlich nur mit der flachen Hand.” Das machte die Sache nicht besser. Hinterher
sprachen wir darüber – wir, die anderen Eltern. Arme Frau, ist sicher überfordert mit dem
Kind. Kennt ihr den Mann, der kümmert sich gar nicht. Möchte man nicht wissen, wie es zugeht
bei denen daheim. Mit ihr redeten wir kein Wort. Die Ohrfeige an diesem Abend bekam Susanne,
von uns.

So schnell kann das heute gehen: ein falsches Wort, ein heikler Standpunkt, und du bist raus. Verbannt aus der Gemeinschaft der anständigen, vernünftigen Menschen. Sie rücken von dir ab, schauen auf dich herunter, sprechen nicht mehr mit, sondern bestenfalls noch zu dir. Und das Schlimmste: Sie dürfen das. Sie
haben
die bessere Haltung.

In allen Ecken unserer Gesellschaft werden ganze Gruppen für unverantwortlich, unzurechnungsfähig, unbelehrbar erklärt: Impfgegner, Klimawandelleugner, Amazon-Kunden, Esoterik-Fans, Jäger, Türkei-Urlauber, Atomkraftbefürworter, Fast-Food-Junkies, Euro-Skeptiker, SUV-Fahrer, Raucher, Russlandversteher … Die Liste wird immer länger.

Und jedes Mal kommt die Frage auf: Was machen wir mit denen? Ich fürchte, wer so redet, ist schon ein Teil des Problems. Mit jeder Grenze, die man zieht, wird die richtige Seite kleiner. Wir sind “die”, wir alle, auf dem einen oder anderen Gebiet, im einen oder anderen Moment.

Ich käme nicht auf die Idee, mein Kind zu schlagen. Aber ich tue genügend Dinge, die mich angreifbar machen. Ich fliege oft, ich esse Fleisch, manchmal auch Gänseleber. Ich amüsiere mich bei Computerspielen, in denen die Fetzen fliegen. Ich renne mitunter bei Rot über die Straße, sogar wenn Kinder zusehen. Ich höre Musik, ohne lange zu fragen, wie es mit dem Copyright steht. Für viele bin ich damit schon dumm, böse oder beides. Ich lege mir das so zurecht, dass man nicht auf allen Feldern vorbildlich leben kann. Ich mache doch schon so viel richtig. Kein starkes Argument, ich weiß. Das ist, als würde Susanne sagen: “Hey, aber ich trenne den Müll.”

In Deutschland wird gerade viel über Hypermoral diskutiert. Komischer Begriff, finde ich; denn Moral hat man ja nie zu viel. Sie kippt nicht um in Unmoral, wenn man damit übertreibt. Das schlichte Wort Rechthaberei kommt der Sache schon näher. Denn darin klingt an, was den Dialog so mühsam macht: Da hat jemand tatsächlich recht, aber er trägt es so vor sich her, dass man aus Trotz widerspricht. So, als wollte er seine Einsichten nicht durch Verbreitung entwerten. Doch auf der richtigen Seite zu stehen macht die Welt noch nicht besser.

Was verbindet Klimaschützer, Impfbefürworter, Antifaschisten, Brexit-Gegner, Abstinenzler, Veganer, Tierschützer und Radfahrer? Sie haben die besten Argumente – und gehen so schlecht damit um. Pelz-Aktivisten, die in der Fußgängerzone ihre Ekelfotos schwenken. Radler, die als Critical Mass halbe Städte lahmlegen. Feministinnen, die im Überschwang Männer als Müll bezeichnen … Tun die ihrer Sache einen Gefallen, oder toben sie sich bloß aus?

Man könnte ja meinen, dass richtiges Leben zu einer heiteren Gelassenheit verhilft. Ein Blick in die Foren der Tierversuchsgegner, der Gay-Rights-Aktivisten oder Klimaschützer bringt einen schnell davon ab. Die Stimme der Vernunft klingt gereizt. Humor begegnet man selten, die Sache ist zu ernst. Abweichler werden gerügt, Verfehlungen aufgespürt, Gegner diffamiert. Wie las ich neulich: Man müsse “den Hass im Keim ersticken”. Da stimmt doch etwas nicht.

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