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Türkei: Beinstellen in Ankara

Lesen Sie hier das türkische Original. Der Text ist für die deutsche Version redaktionell leicht bearbeitet worden.

Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 wurden in der Türkei 15
Universitäten geschlossen. Nahezu dreitausend Akademiker verloren dadurch ihren Job.
Fünftausend weitere Universitätsdozenten wurden aus verschiedenen Gründen entlassen. Um den
dadurch entstandenen Personalmangel auszugleichen, der den Universitätsbetrieb praktisch
lahmlegte, startete die Regierung eine Kampagne: Im Ausland lebende Wissenschaftler sollen
animiert werden, in die Türkei zurückzukehren. Am Morgen, nachdem der zuständige Minister die
Kampagne vorgestellt hatte, nahm die Polizei 20 Personen in Gewahrsam, vor allem Akademiker.
Im Morgengrauen aus dem Haus geholt wurden auch Prof. Turgut Tarhanlı, Dekan einer
Rechtsfakultät, und Prof. Betül Canbay, die Vizepräsidentin der Europäischen Mathematischen
Gesellschaft.

Die festgenommenen Akademiker werden beschuldigt, vor fünf Jahren die Gezi-Proteste organisiert zu haben. Sie sollen oppositionelle Medien betrieben und versucht haben, so behauptet es der Staat, den Import des Tränengases zu sabotieren, das die Polizei gegen die Proteste einsetzte. Zu einer der Festgenommenen heißt es auf dem polizeilichen Merkblatt lediglich: “Mit einem regierungskritischen Journalisten verheiratet.”

Während ein Lager der Regierung sich bemüht, ins Ausland gegangene Akademiker zurückzuholen, hat ein anderes Regierungslager mit den Razzien und Festnahmen vermutlich noch selbst die letzten Rückkehrwilligen verschreckt. Das ist zwar absurd, aber noch gar nicht der Hauptwiderspruch.

Diese Woche stand seit Langem einmal wieder ein Gespräch zwischen der Türkei und der EU auf höchster Ebene an. Die Festnahmewelle war unmittelbar vor die Sitzung gelegt worden. Da stellte sich unwillkürlich die Frage: Versuchen die EU-Befürworter und EU-Gegner in der Regierung einander ein Bein zu stellen?

Vor dem Übergang zum Präsidialsystem mit dem jüngsten Volksentscheid trat der Ministerrat regelmäßig zusammen und legte unter Vorsitz des Premiers die gemeinsame Strategie fest. Seit Erdoğan den Präsidentenposten innehat, handelt jeder der Minister, die ohnehin nur noch wie Sekretäre fungieren, nach eigener Fasson. Sie fassen absolut gegensätzliche Beschlüsse, behaupten aber alle, im Namen des Staatspräsidenten zu handeln.

Wie steht Erdoğan zu alledem? Am vergangenen Wochenende sagte er: “Wir leben in einem Land, in dem mehr über Freiheiten als über Verbote geredet und jedwede Idee frei zur Sprache gebracht wird.”

Ich musste sofort an einen Spruch von Joseph Goebbels denken: “Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben.”

Die Mehrzahl derer, die an die Lüge einer “Türkei, in der über Freiheiten geredet wird”, geglaubt haben und die Regierung kritisierten, sitzt nun hinter Gittern.

Meinen Sie, die EU wird Erdoğan Glauben schenken?


Aus dem Türkischen von
Sabine Adatepe

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