/Schach-WM: Ein Affenzug am Damenflügel

Schach-WM: Ein Affenzug am Damenflügel

Die
Luft ist
elektrisch im
College zu Holborn,

als am Samstag
um
Punkt
15
Uhr Londoner Zeit die elfte Runde beginnt. Sogar
ein Fernsehteam von Rai
3
aus Rom ist
angereist; irgendwem
im
Sender muss
aufgefallen sein,
dass
der Amerikaner Fabiano Caruana,
der
jetzt Schachweltmeister werden könnte, auch
ein Italiener ist. Doppelte Staatsbürgerschaft!

Der
Bericht, für
den
sie drehen, werde
allerdings erst im Februar ausgestrahlt, erzählt
die Reporterin, um
die Erwartungen zu dämpfen.
Er soll mit Schach und Intelligenz
zu tun haben. Ein
mehr grundsätzliches Thema. Das
eilt natürlich
nicht so.

Große
Überraschung
dann
vor
dem
ersten Zug der
Partie, den wie immer ein prominenter
Gast ausführen darf. Weder die
Spieler noch das Publikum haben eine Ahnung, wer
an diesem Tag kommen wird. Und,
kaum
zu glauben:
Es
ist Sergej Karjakin,
der
Russe, der
Carlsen
vor zwei Jahren in New York einen langen Kampf geliefert hatte, bis
er im Stechen unterlag.

Die
Duellanten
von
2018 müssen
sehr überrascht sein, aber sie
zeigen es kaum.
Carlsen versucht
einen schleppenden Witz, Caruana lächelt sein Dauerlächeln. Zu
sehr sind sie
mit ihren
Gedanken schon bei der Partie.

Sergej Karjakin
dagegen
ist
aufgekratzt. Er kann es kaum abwarten, den ersten Zug zu machen. Noch
bevor der Schiedsrichter ihn auffordert, steht er bei Carlsen, der
die weißen Steine hat,
und setzt
den
Damenspringerbauern zwei Felder vor, 1.
b2-b4. Ein
Zug, der
unter
Schachspielern
auch
als
Orang-Utang-Eröffnung bekannt ist,
weil
der weiße Bauer
flink wie ein
Affe den Damenflügel erklimmt. Das
wäre was für das italienische Fernsehteam: ein nicht so
intelligenter Zug!

Das
Publikum im Saal kann das alles nicht sehen, weil der Blick auf die
Akteure vom
Pulk der
Fotografen versperrt ist, die zu Beginn der Partie das Brett
umlagern. Das Publikum sieht
nur den ersten Zug, der
auf dem Schachbildschirm
über der Bühne leuchtet:
1. b2–b4! Die Fans mögen es gar nicht glauben. Was macht
Magnus
da?

Nun,
Magnus nimmt Karjakins
Zug wieder zurück und spielt seinen ersten Zug, den Königsbauern
zwei
Felder
vor.
Erleichterung
im Saal.

Caruana
tut es ihm gleich; es
ergibt sich eine Variante der russischen
Verteidigung,
die der Herausforderer aus dem Effeff beherrscht. Kann Carlsen
etwas
Neues bringen, das seinen
Gegenüber
vor Probleme stellt?

Von
beiden Spielern
kommen
alle Züge sofort, zack-zack. Sie spielen eine bekannte Variante nach
– bis
zum 10. Zug. Carlsen
hält inne und versinkt in tiefes Nachdenken. Hat
Caruana ihn wieder einmal überrascht? Das wiederum überrascht das
Publikum. Er muss sich das vorher doch alles genau angeschaut haben?
Am Tag zuvor im Hotel oder schon
in
den Wochen der Vorbereitung auf das Match?

Ernst,
entschlossen, fokussiert sitzt
Caruana da.
Auch er schaut aufs Brett. Es ist ein milder, schweifender
Blick, wie um sich zu vergewissern.

Der Weltmeister sackt einen Bauern ein

Carlsen
lässt im
14. Zug
den Abtausch
der Damen zu; weitere Figuren
verschwinden
vom Brett. Es
wird doch wohl nicht wieder Remis werden? Nach
25 Zügen ist
ein Endspiel mit je sechs Bauern und
je einem
Läufer erreicht. Weil
die Läufer auf Feldern verschiedener Farbe stehen, ist das bei
korrekter Verteidigung
nicht zu gewinnen, auch nicht mit einem Bauern mehr, den Carlsen
zwischendurch noch einsackt.

Dem
Weltmeister scheint das egal zu sein. Er spielt weiter
und weiter.
Hofft er auf einen krassen Fehler seines Gegners? Oder will er
den Moment hinausschieben, in dem er eingestehen muss, dass seine
letzte Chance, mit Weiß einen Vorteil zu erringen, vertan ist?

Das
Remis kommt im 58. Zug.

Auf
der anschließenden Pressekonferenz vor
Publikum wird Carlsen von einem norwegischen Reporter gefragt,
was er von Karjakins Eröffnungszug hält. Gelächter im Saal.
“Vielleicht hätte ich den ziehen sollen”, sagt er mit
matter Stimme.
Gelächter
im Saal. Und Fabiano Caruana? Hätte er sich gefreut, diesen Zug zu
sehen? “Ja, natürlich”, sagt der.
Gelächter. “Aber ich habe
mich
auch gefreut, Sergej zu sehen!” So ist Caruana, immer freundlich,
immer
in
der Balance.

Karjakin
findet übrigens, bei
aller Sympathie für Fabiano, dass Magnus
Weltmeister bleiben möge,
einfach deshalb, weil er populär sei und Aufmerksamkeit auf das
Schach lenke. Es sei besser, wenn der Weltmeister nicht alle zwei
Jahre wechsele, sondern auf lange Zeit dominiere! Vor
zwei Jahren hat
er das bestimmt noch anders gesehen.

Am
Montag wird
die letzte langsame WM-Partie gespielt. Fabiano Caruana mit
Weiß
wird
definitiv versuchen, sie
zu gewinnen.

Nach
elf
von zwölf Runden steht es
5,5:5,5.
Die
letzte
Runde
der
Schach-WM

beginnt am
Montag
um 16 Uhr deutscher Zeit.
Unser
Reporter Ulrich Stock begleitet für Sie die Schach-WM in London –
hier auf ZEIT ONLINE und in der ZEIT. Alles zum Turnier finden Sie auf unserer Themenseite.

Die bisherigen Runden im Überblick:

9. November: Caruana 0,5 – Carlsen 0,5 (zum Report der 1. Partie und Nachspielen, zur Videoanalyse)
10. November:
Carlsen 0,5 – Caruana 0,5 (zum Report der 2. Partie und Nachspielen, zur Videoanalyse)
12. November: Caruana 0,5 – Carlsen 0,5 (zum Report der 3. Partie und Nachspielen, zur Videoanalyse)
13. November:
Carlsen 0,5 – Caruana 0,5 (zum Report der 4. Partie und Nachspielen)
15. November: Caruana 0,5 – Carlsen 0,5
(zum Report der 5. Partie und Nachspielen, zur Videoanalyse)  
16. November: Carlsen 0,5 – Caruana 0,5 (zum Report der 6. Partie und Nachspielen)
18. November: Carlsen 0,5 – Caruana 0,5 (zum Report der 7. Partie und Nachspielen)
19. November: Caruana 0,5 – Carlsen 0,5  (zum Report der 8. Partie und Nachspielen)
21. November: Carlsen 0,5 – Caruana 0,5 (zum Report der 9. Partei und Nachspielen)
22. November: Caruana 0,5 – Carlsen 0,5 (zum Report der 10. Partie und Nachspielen)

Der Spieler, der
zuerst 6,5 Punkte erreicht, ist Weltmeister. Bei Gleichstand nach zwölf
Runden erfolgt ein Tiebreak mit Schnellschachpartien. Das Preisgeld
beträgt eine Million Dollar.

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