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EU-Austritt : “Der Brexit ist für Nordirland eine Katastrophe”

Zwanzig Jahre ist es her, da beendete das Karfreitagsabkommen offiziell den knapp 30 Jahre währenden Nordirlandkonflikt. Seitdem herrscht in Nordirland ein brüchiger Frieden zwischen Protestanten und Katholiken. Wie sehr gefährdet der Brexit diesen Frieden? Darüber haben wir mit dem Politologen Thomas Noetzel der Universität Marburg gesprochen.

ZEIT ONLINE: In Nordirland streitet sich das Parlament. Der katholische Teil der Regierung will in der Europäischen Union bleiben, der protestantische will sie verlassen. Immer öfter ist von Befürchtungen zu lesen, die Gewalt an der Grenze könne wieder ausbrechen. Könnte das zu einem erneuten Ausbruch des Nordirlandkonflikts führen?

EU-Austritt: Thomas Noetzel ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Philipps-Universität Marburg.

Thomas Noetzel ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Philipps-Universität Marburg.
© Privat

Thomas Noetzel: Die Möglichkeit besteht. Schließlich drehte sich der Konflikt besonders um die Frage nach der Staatszugehörigkeit. Als Großbritannien und damit auch Nordirland 1973 mit Irland zusammen Teil der Europäischen Union wurden, konnte diese Frage vorerst entschärft werden. Unter anderem, weil die Grenze zwischen Irland und Nordirland verschwand. Aber noch immer fühlt sich ein Teil der Einwohner Nordirlands als Briten und ein anderer als Iren. Wird diesen Menschen der Puffer genommen, den die EU bietet, kann es gut sein, dass die Lage wieder eskaliert. Der Brexit ist eine Katastrophe für Nordirland – und das nicht nur wirtschaftlich.

ZEIT ONLINE: Der Nordirlandkonflikt brach in den Sechzigern aus und dauerte länger als 30 Jahre. Spannungen aber gibt es noch viel länger, nämlich bereits seit die Engländer im 16. Jahrhundert Irland eroberten. Wie kam es zu dem Konflikt?

Noetzel: Er hat verschiedene Ursachen. Protestantische Engländer besiedelten am Anfang des 17. Jahrhunderts Nordirland und rissen die Ländereien der katholischen Iren an sich. Jahrzehnte später wiederum setzte sich der englische König Jakob II. für die Rekatholisierung Englands ein und unterstützte die aufständischen Katholiken in Irland. Es kam zu einem Bürgerkrieg, in dem Wilhelm von Oranien den englischen König besiegte und die Herrschaft über England sowie Irland übernahm. Diesen Sieg feiern die britischen Protestanten in Nordirland bis heute in alljährlichen Umzügen. Es folgten Strafgesetze, die den Katholikinnen und Katholiken den Schulbesuch und die Arbeit in öffentlichen Ämtern untersagten. Eine Zweiklassengesellschaft entstand, die Nordirland bis heute prägt. Zwar wurden die Strafgesetze mit der Zeit abgeschafft, die Unterdrückung aber lebte zum Beispiel in Form von fehlender Wahlberechtigung noch lange weiter.

ZEIT ONLINE: Etwas, das den Irinnen und Iren nicht gefallen konnte.

Noetzel: Ganz genau. Die mehrheitlich katholischen Menschen in Nordirland kämpften dafür, bei politischen Fragen mitzubestimmen und letztlich die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erhalten, die sich die Republik Irland bereits 1921 erkämpft hat. Die Protestanten waren Großbritannien gegenüber loyal. Irgendwann entstanden in den beiden Gruppen radikale Gruppierungen, die sich untereinander bekämpften. In den Sechzigern eskalierte dieser Konflikt, als die protestantische Terrororganisation Ulster Volunteer Force (UVF) anfing, die Katholiken gezielt einzuschüchtern.

ZEIT ONLINE: Welche Gruppierungen gab es noch neben der UVF? Und was spielten sie für eine Rolle in dem Konflikt?

Noetzel: Das katholische Gegenstück zur UVF war die militante Irish Republican Army (IRA). Diese spaltete sich während des Nordirlandkonflikts in verschiedene Splittergruppen, manche radikaler, manche weniger radikal. Die UVF und die IRA waren paramilitärisch organisiert und kämpften mit Waffengewalt für ihre Interessen. Heute sitzen ehemalige Mitglieder der Paramilitärs im nordirischen Parlament.

ZEIT ONLINE: Und welche Rolle spielten die Britinnen und Briten?

Noetzel: Nordirland ist eine der Provinzen Großbritanniens. Die Regierung in Westminster ist für dieses Territorium genauso verantwortlich wie für Schottland oder Wales. Um die Straßenschlachten zu unterbinden, erhöhte die britische Regierung 1969 die Anzahl der Polizeikräfte und die Militärpräsenz. Drei Jahre später führte die Gewalt der britischen Einsatzkräfte zu einer weiteren Eskalation. Britische Fallschirmjäger schlugen eine friedliche Demonstration der Iren für mehr Bürgerrechte mit Gewalt nieder. Dreizehn Menschen wurden am sogenannten Blutsonntag erschossen.

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