/Schach-WM 2018: Zwei ziehen und alle rätseln

Schach-WM 2018: Zwei ziehen und alle rätseln

Fabiano Caruana und Magnus Carlsen schaffen es wirklich: nicht nur am Mittwoch den Remis-Rekord zu Beginn einer Schachweltmeisterschaft zu brechen, alle neune, sondern am Donnerstag gleich noch eins drauf zu setzen – zehn Unentschieden in Serie!

Ich muss allerdings sagen, dass dieses Remis zu den aufregendsten Partien zählt, die ich je bei einer WM gesehen habe. Fabiano Caruana mit Weiß eröffnet mit dem Königsbauern, Magnus Carlsen macht einen Sweschnikow-Sizilianer daraus, so heißt der schwarze Aufbau, der für aktives Spiel eine Felderschwäche im Zentrum in Kauf nimmt.

Sie hatten diese Variante schon zu fassen in der 8. Runde; wie dort folgt Caruana nicht dem Hauptstrom gespielter Meisterpartien, sondern biegt schnell in eine Nebenvariante ab. Er verstopft das Loch im schwarzen Aufbau mit einem vorgerückten Bauern und schafft damit den Dreh- und Angelpunkt der Stellung. Der weiße Bauer auf d5 und der schwarze Bauer auf d6 stehen sich Kopf an Kopf gegenüber, können weder vor noch zurück. Um sie herum ist alles offen. Weiß kann auf dem Damenflügel zu Werke gehen, Schwarz auf dem Königsflügel, ungehindert vom Gegenüber.

Schach-WM 2018: Stellung nach dem 8. Zug von Schwarz: Ein weißer und ein schwarzer Bauer Kopf an Kopf.

Stellung nach dem 8. Zug von Schwarz: Ein weißer und ein schwarzer Bauer Kopf an Kopf.
© chess24.com

Solcherlei Freiheit ist ungewöhnlich im Schach. Viele Eröffnungen bringen ein sehr statisches Gerüst aus zentral ineinander verkeilten Bauern hervor: Französisch zum Beispiel oder Königsindisch, herrliche Namen, die bestimmte, langlebige Stellungstypen bezeichnen. Die Struktur gibt vor, wo die Figuren am besten stehen, Türme zum Beispiel  auf offenen Linien, auf denen sie ihre Schnelligkeit entfalten können, Läufer auf der Felderfarbe, die der ihrer Bauern entgegengesetzt ist, damit ihnen nicht ständig die eigenen Leute im Wege stehen.

Die Bauern sind wichtig

Was viele, die Schach nur gelegentlich spielen, nicht verstehen, ist die Wichtigkeit der Bauern. Einerseits ist so ein Bauer materiell nicht viel wert, viel weniger als ein Läufer oder ein Springer. Andererseits bestimmt die Formation der Bauern das gesamte Spiel. Je größer und unveränderlicher eine Bauernstruktur, desto langsamer und stabiler verläuft eine Partie.

In der zehnten WM-Partie gibt es nun nur diese punktuelle Zentrumsstruktur aus einem schwarz-weißen Bauernpaar. Jenseits davon können beide Spieler den freien Raum nach eigenem Ermessen einnehmen. Der Weiße kommt mit Springer, Läufer und Turm und erringt einen Freibauern auf der fünften Reihe; der Schwarze schickt den e- und den f-Bauern los, die weiße Königsstellung aufzurammen. Weiß will sich eine zweite Dame holen, Schwarz will mattsetzen – so ließe sich die Strategie beider Seiten grob zusammenfassen.

Schach-WM 2018: Stellung nach dem 23. Zug von Weiß: Caruana hat einen Freibauern auf der fünften Reihe. Carlsens Bauern sind bereit zum Angriff.

Stellung nach dem 23. Zug von Weiß: Caruana hat einen Freibauern auf der fünften Reihe. Carlsens Bauern sind bereit zum Angriff.
© chess24.com

Schaut man allerdings genauer hin, blickt keiner mehr durch. Die
Stellung ist über weite Strecken in einer dynamischen Balance, die mit
jedem Zug in die eine oder andere Richtung kippen könnte. Caruana und
Carlsen finden nach langem Überlegen immer wieder Züge, mit denen die
Großmeister am Spielort nicht rechnen.

“Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht”, bekennt der Engländer
Jonathan Speelman, der einst zu den Top Ten der Welt gehörte und jetzt
als Schachreporter im WM-Pressezentrum vor seinem Laptop sitzt. “Es ist
beängstigend.” Und die Ungarin Judit Polgár, lange Zeit stärkste
Schachspielerin der Welt, die fürs Publikum kommentiert, ändert ihre
Sicht der Dinge alle paar Minuten.

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