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Bulgarien: Der Hinterhof der Fast Fashion

Secondhandkleidung kaufen vor allem Arme? Diesen Eindruck will
Genoveva Petrova auf jeden Fall vermeiden. “Es ist ein Statement, ein Ausdruck
von Ökobewusstsein. Und ein guter Deal”, sagt die junge Mitgründerin von
Remix Global AD, einem der größten Secondhandhändler
Bulgariens mit österreichischer Beteiligung.
Sie redet an gegen Vorurteile gegenüber gebrauchter Mode: Das tragen die
Loser, die Leute, die auf alte Kleider der Westler angewiesen sind, die den
Anschluss an die Marktwirtschaft nicht geschafft haben.

Wenn an diesem Freitag wieder der Schnäppchentag Black Friday ausgerufen wird und Händler wie Amazon und Zalando Shoppingrekorde verzeichnen, dann bleibt die Frage: Wo landen all die Jeans, Kleider und Turnschuhe, die am Ende zurückgeschickt werden, weil sie doch nicht passen oder die Farbe nicht gefällt? Oder die nach zweimal Tragen in den Altkleidercontainer geworfen werden? Ein Teil von ihnen wird knappe 2.000 Kilometer entfernt nach Bulgarien exportiert. Hier entsteht zurzeit eine Industrie, die sich auf das Geschäft mit der ungewollten Kleidung spezialisiert hat. Für die einen ist es ein Lichtblick in einem Land, das zu den ärmsten Europas zählt. Für die anderen ist es die hässliche Kehrseite der globalisierten Modeindustrie.

In der Fast-Fashion-Branche ist eine Retourenquote von mehr als 40 Prozent keine Seltenheit. Nicht alles davon verwerten die Modeunternehmen selbst. Die Unternehmerin Petrova profitiert davon: Vor sechs Jahren gründete sie mit drei Geschäftspartnern in Bulgarien das Unternehmen Remix, das die Nische zwischen dem aufstrebenden Onlinehandel und Secondhand entdeckte. Remix investierte seit dem Entstehen in eigene Verarbeitungsanlagen, in denen die zurückgeschickte Mode aufgearbeitet wird. Sie wird geprüft, desinfiziert, gefaltet. Anschließend verkauft Remix die Kleidung in den eigenen Onlinesecondhandshops mit dem Slogan reuse, reduce, remix. Nicht nur in Bulgarien kommt das gut an, sondern inzwischen in neun weiteren EU-Ländern, darunter Deutschland und Österreich. Die Einnahmen für 2017 liegen bei 28 Millionen Euro. Es hätte mehr sein können, hätte es nicht einen Brand im größten Lager- und Verarbeitungsdepot während einer Inventurprüfung gegeben.

50.000 Tonnen Textilien im Jahr

Die Secondhandbranche in Bulgarien ist mit einem Jahresumsatz von 60 Millionen Euro inzwischen so groß, dass sie sogar einen eigenen Verband gegründet hat. Nach dessen Angaben verarbeiten die Händler jedes Jahr rund 50.000 Tonnen Textilien. Die importierte Kleidung stammt vor allem aus Deutschland, Skandinavien, Italien und der Schweiz. Partner der bulgarischen Firmen sind unter anderem Textil-Recycling-Firmen wie der Schweizer Textilkonzern Texaid oder das bayrische Entsorgungsunternehmen Lorenz Wittmann GmbH. In Bulgarien wird diese Kleidung dann aufgehübscht.

Jedes zweite Teil hängt am Ende in einem Shop in Bulgarien. Die restliche aufbereitete Ware wird wieder exportiert, sehr gut erhaltene Artikel können sogar wieder in den Lagern der Onlinehändler in Deutschland, den Niederlanden und Dänemark auftauchen. Was Marokko für das weltweite Krabben-Pulen-Business ist, ist Bulgarien für das ungewollte T-Shirt. Selbst verdreckte oder kaputte Ware wird nochmal genutzt, indem sie von Remix als Textilabfall an Produzenten von Türdichtungen in Indien verkauft wird. “Wir vereinen den Handel mit ökologischer Verantwortung und sozialem Engagement”, sagt Petrova.

Marieta Vassileva* ist eine der 425 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kleidung für Remix sortieren. Sie ahnt nichts vom grünen und humanen Image ihrer Firma. Die kleine energische Frau mit dunkelbraunen Locken und rundem Gesicht ist 34 Jahre alt, geschieden und hat zwei Kinder. Für ihre Familie kauft sie stets das billigste Spülmittel im Supermarkt. Über die Hälfte von Marietas Einkommen geht für Lebensmittel und Produkte für den Alltag drauf. Mit ihrem Vollzeitjob verdient sie 400 Euro, das liegt zwar unter dem bulgarischen Durchschnitt von knapp 575 Euro. Doch den Lohn bekommt sie regelmäßig, kranken- und sozialversichert ist sie auch. All das ist in Bulgarien nicht selbstverständlich.

Trotzdem überlegt Vassileva zu kündigen. Es ist ihr alles zu viel. Die anspruchsvollen Vorgaben, über die Marieta laut Vertrag nicht sprechen darf, das ständige Stehen, der Stress, die Wochenenddienste, erzählt sie während eines Treffens. “Es sind immer neue Haufen staubiger Kleider, die ich schnell zuordnen muss. Dabei muss ich sehr gut schauen, ob sich nicht doch ein bisschen Lippenstift oder ein kleines Loch irgendwo versteckt.” Wenn sie nach der Arbeit in einem Sofioter Vorort in den Betriebsbus steige, seien ihre Beine taub. In der Nacht wache sie von Hustenanfällen auf.

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