/“Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot”: Verhext vom Habenwollen

“Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot”: Verhext vom Habenwollen

Die Philosophie, so hätte man es gern, muss ein Alleskönner sein. Sie soll
die verbliebenen Welträtsel lösen und mit einem Quantum Trost auch noch die Religion ersetzen.
Und das alles mundgerecht abgepackt und in verständlicher Sprache. Weisheit zum Sofortverzehr?
Philosophie als Betriebsanleitung für ein hochwertiges Dasein? Das kann nicht gut gehen.

Der Gymnasiast Robert ist ein Schüler, von dem Philosophielehrer nur träumen können. Der junge Mann hat sich am Denken angesteckt, er liest philosophische Bücher nicht, er inhaliert sie. Er kennt Augustinus’ Sätze über die Zeit, und an Bergsons Theoriedroge hat er auch schon geschnüffelt. Der kluge Robert (Josef Mattes) glaubt, dass sich im Philosophen das Sein selber denkt. Das ist natürlich nicht auf seinem Mist gewachsen, das hat er von St. Martin, seinem Hausheiligen. Martin Heidegger ist für ihn der Größte, seine Gedanken kennt er im Schlaf. Robert ist der kleine Augustinus, und der kleine Heidegger ist er auch. Manchmal lacht Robert, doch sein Lachen klingt metallisch. Fast schon unheimlich.

Robert hat eine Zwillingsschwester, sie heißt Elena (Julia Zange) und bereitet sich auf einen Abiturvortrag in Philosophie vor. Ihr Thema ist, was sonst, Heideggers Denken; am Wochenende vor der Prüfung soll Bruder Robert den Stoff mit ihr noch einmal durchgehen, über Sein und Zeit wollen sie reden, über Wahrheit und Unverborgenheit. Und wo lässt sich tiefer denken als in der freien Natur, in einem gütigen Sommer, auf einem Feld mit einem paradiesischen Waldsee in der Nähe? So ziehen die Zwillinge also los, der Blick der Kamera ruht auf schneebedeckten Bergen. Wolkengebirge ziehen vorüber, und die Schatten der Windräder perforieren das Licht.

In einem Kornfeld, in Rufweite einer kleinen Tankstelle, lassen Robert und Elena sich nieder und breiten ihre Hefte und Bücher aus; Ameisen krabbeln und Grillen zirpen. Elena schmerzt der kommende Abschied von ihrem Bruder, denn nach dem Abitur müssen sie getrennte Wege gehen. Abschied, so sagen es auch Augustinus und Heidegger, ist das Wesen der Zeit; es gibt keine Gegenwart, nur den Übergang von Zeit in Nichtsein. Aber wenn alles fließt: Was ist dann Wahrheit? Auf die Wahrheit, sagt Robert, könne man nur warten, denn sie müsse sich zeigen. Und dann, nach drei langen Stunden, wird sich im Film die Wahrheit zeigen. Sie ist ein surrealer Exzess, sie ist Vergewaltigung, Folter und, man kann’s nicht anders sagen, Faschismus.

Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot ist das vielleicht denkwürdigste Experiment im deutschen Kino der letzten Jahre, anmaßend, unverschämt und obszön sowieso. Der Film ist ein brutales Kammerspiel im Freien, eine Großmetapher über die Zivilisation, und ein Seitenstück zu Andrew Birkins Inzestfilm Der Zementgarten ist er auch. Heideggers Philosophie ist für diese Gesamtschau ideal, denn anders als bei Adorno muss man sich bei ihm nicht mit lästigen Machtfragen aufhalten – die Regie kann die Gegenwart wie eine Märklin-Welt aus den Wolken betrachten. Heidegger ist die Drohnenkamera der Philosophie. Mit ihm schaut man gottgleich auf das tolle Erdenwesen, das sich ganz lieb an die Gurgel geht, sanftmütig und mörderisch, bis ihm am Ende die Schminke das Gesicht runterläuft und es herabsinkt – wie Heidegger sagen würde – “noch unter das Tier”.

Bevor die Geschichte beginnt, am Anfang vor dem Anfang, sieht man Brüderlein und Schwesterlein in einem Flashback für einen Sekundenbruchteil innig nebeneinanderliegen. Blitzartig belichtet Gröning die traumhafte Symbiose, und nur zwei-, dreimal kehrt sie noch einmal wieder: wenn die Unzertrennlichen im Waldsee baden, wenn sie schwerelos durchs Wasser gleiten und die Kamera sie schräg von unten filmt, gegen die Sonnenstrahlen, die in erhabener Gleichgültigkeit das milchige Grün durchdringen.

Das alles ist mit verstörender Intensität ins Bild gesetzt, so hinreißend schön, dass man sich nicht sattsehen kann am Frieden der Natur. Und doch: Sobald die Zwillinge wieder auftauchen, bricht eine böse Gereiztheit auf, ein hässliches Spiel aus Anziehung und Abstoßung, und dann gehen das Zarte und das Gewaltsame, die Innigkeit und die Zwietracht bruchlos ineinander über. Worte sind Waffen im Geschwisterduell, sie müssen wehtun, erst dann spüren sich die beiden wieder. Einmal spielt Elena einem Grashüpfer Serge Gainsbourgs Chanson
La Javanaise
vor, dann wieder fürchtet man, sie werde das Tierchen in ihrer Hand zerquetschen. Die Nahaufnahmen verstärken die porentiefe Aggression, es fließt Blut, oder ist es nur ein roter Lippenstift? Robert kippt seiner Schwester Bier über den Kopf, als müsse er ihr Gesicht unkenntlich machen. Dann wieder eine Lektion Heidegger: Der Mensch sei eine Lücke in der Natur, und diese Lücke werde mit Sprache gefüllt. Doch weil die Sprache mehrdeutig sei, gehörten Streit und Missverstehen immer schon dazu. Unmissverständlich wahr ist jedenfalls Elenas Eifersucht, denn Robert hat sich in ihre Freundin Cecilia (Zita Aretz) verliebt. Was für ein Verrat – Verrat an der Geschwisterliebe. Verrat an der Kindheit. Verrat an der großen Symbiose.

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