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Dresdner Christstollen: Heiliger Laib

“So, meine Damen und Herren, liebe Stollenfreunde, unsere Juroren sind
schon mittendrin, da wird von allen Seiten geguckt und begutachtet, hier wird eben richtig
geprüft, und da gehen die Wertungskarten nach oben, dieser Juror hier vergibt nur eine Vier
Komma sechs für das Aussehen des Prüfstollens Nummer drei, da muss ich doch direkt mal
nachfragen, das wird Sie sicher auch interessieren, meine Damen und Herren, was hier nicht in
Ordnung war, warum hier eine doch etwas kritische Vier Komma sechs vergeben wird, zur
Erinnerung, die Höchstnote wäre wie immer eine Fünf Komma null, da frage ich doch direkt mal
nach bei unserem Juror …”

“Geprüft auf Krume und Rosine!”

Wir sind mittendrin, öffentliche Stollenprüfung im Dresdner Einkaufszentrum Altmarkt-Galerie, “Geprüft auf Krume und Rosine!”, wie jedes Jahr wird das begehrte Dresdner Stollensiegel vergeben: Nur wer hier besteht, darf sein Werk als “Dresdner Christstollen” verkaufen. Und der Kommentator – wie alle Anwesenden in traditioneller weißer Bäckerkleidung, die blau-gelbe Schärpe der sächsischen Bäckerinnung ruht wie ein Fußballfanschal auf seinen Schultern –, der Kommentator legt sich mächtig ins Zeug. Das Publikum geht mit, interessiert folgt die Menge, die den Stand umringt, den Ausführungen des Jurors, ja, was war denn nun kritikwürdig am Aussehen des Teststollens Nummer drei?

Da kommt Bewegung auf, ein Tablett mit den Resten des Prüfstollens Nummer drei wird durchs Publikum gereicht, einige Umstehende tragen bereits die Spuren der Prüfstollen Nummer eins und Nummer zwei auf ihren Jacken. Puderzucker, wie er schneeweiß die Stollen bedeckt, wir klopfen uns den Stollenstaub von den Kleidern, greifen aufs Tablett, das sich schnell leert, und kosten und essen und riechen am Stollen, die Juroren spülen sich den Mund aus zwischen den Testdurchgängen, von 11 bis 18 Uhr werden sie hier sitzen und testen, kosten, riechen, fühlen. Sechzig Stollen werden es am Ende des Tages gewesen sein, und wenn man genau hinschaut, kann man auch auf dem Boden um den Prüfstand herum, um die lange Testtafel, an der die Juroren sitzen, den feinen Stollenschnee auf dem Fliesenboden der Altmarkt-Galerie erkennen.

Einmal, schon spät am Nachmittag, der Stand ist immer noch dicht umlagert, ein Kommen und Gehen, nur die Juroren verharren gebeugt über den Stollen (aber natürlich müssen auch sie mal Pause machen, “Träumt man da nicht von etwas Herzhaftem?” – “Nee!”), einmal also kommt tatsächlich ein Hund, geführt von einer alten Dame, ein kleiner, ebenfalls puderzuckerweißer Hund, alles scheint weiß zu sein heute in der Dresdner Altmarkt-Galerie, und leckt den Boden ab. Niemand, so scheint es, kann sich dem Dresdner Christstollen entziehen, mit all seinen Geheimnissen und Legenden. So wurde früher, also zu DDR Zeiten, von langer Hand geplant, wie etwas von dem guten Teig, der ja aus lauter erlesenen und streng reglementierten Zutaten bestand und besteht, abgezweigt werden kann, Schüsseln wurden unterm Backtisch versteckt, so hören wir’s zumindest im Publikum, die Alten kommen ins Erzählen, während sie wieder und wieder von den gereichten Stollentabletts naschen, oh du großer Stollentraum!

Was der Prüfstollen beim Aussehen verlor, macht er beim Geschmack wett!

Der Traum vom goldenen Stollensiegel wird aber meist erfüllt, nur selten fällt mal ein Christstollen durch, 16 Punkte müssen erreicht werden in vier Testkategorien. Erstens: innere Beschaffenheit des Prüfstollens. Zweitens: äußere Beschaffenheit des Prüfstollens. Drittens: der Geruch des Prüfstollens. Viertens: der Geschmack des Prüfstollens. Und was beispielsweise der Prüfstollen Nummer zwei, oder war’s die Nummer drei?, beim Aussehen verlor (“Hier sehen Sie, meine Damen und Herren, am Boden des Stollens sind Fettreste, das ergibt diese unschönen schwarzen Ablagerungen hier, das woll’n wir nicht, das ist nicht optimal …”), macht er beim Geschmack wett! “Fünf Komma null, dreimal Höchstnote, meine Damen und Herren, dann einmal eine Vier Komma neun, eine Vier Komma acht hier, und …”

Nicht zu trocken darf er sein, da erwischt es im Laufe des Tages doch einige, “Oh, eine Vier Komma fünf nur, der ist schliff, der ist wohl fast schon schliff!” Wird er aber zu früh aus dem Ofen genommen, dann ist er im Inneren noch zu teigig … “Saftsch musser sein!”, ruft eine Frau im Publikum, als der moderierende Bäckermeister mit dem Mikro rumgeht, ja, der Dresdner (die Dresdnerin!) fiebert mit, wenn es um seinen (ihren!) Stollen geht.

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