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Christine Schraner Burgener: Sie ist die letzte Chance

Zum 10. Geburtstag der Schweiz-Seiten der ZEIT schenken wir dem Land ein Psychogramm – erstellt aus den Antworten auf 100 Fragen an die Schweiz. Dieser Text ist Antwort auf Frage 19: Kann die Schweiz die Welt verändern?

Christine Schraner Burgener sitzt im Zug von Basel nach Paris, greift nach
ihrem Handy, das auf dem ausklappbaren Tischchen liegt, wählt die Nummer der Bundesverwaltung
in Bern und sagt:
“Grüezi, da isch Schraner, ich bin UN-Sondergsandti für Myanmar.”
Sie wolle fragen, ob sie das Material einer alten Kampagne ausleihen könne, mit der die
Schweizer Bevölkerung für das Thema Rassismus sensibilisiert worden sei. “Ja genau, diese
Schwarz-Weiß-Bilder. Oder gerne auch Videos und Broschüren. Ich kann sie am Montag abholen,
ich bin dann in Bern.”

Christine Schraner Burgener, 55, Juristin, graues Deuxpièces, beiger Trenchcoat, weiße Ballerinas, erinnert eher an eine Start-up-Unternehmerin als an eine Spitzendiplomatin der Vereinten Nationen: Sie kümmert sich um alles selbst. Sie organisiert Anschauungsmaterial, sammelt Spesenbelege, mietet ein Büro, rekrutiert neue Mitarbeiter und versucht dabei, das ganz große Ziel nicht aus den Augen zu verlieren – den Frieden.

An diesem Donnerstagvormittag Anfang Oktober reist Schraner Burgener nach Paris, um im Außenministerium französische Regierungsvertreter zu treffen und mit ihnen über ihre neue Aufgabe zu sprechen. Eine Aufgabe, die unlösbar scheint und unfassbar groß: In Myanmar, im Südosten Asiens, wo die Militärs unter dem Verdacht stehen, einen Genozid an ihrer eigenen Bevölkerung begangen zu haben, soll die Diplomatin zwischen Tätern und Opfern, zwischen mutmaßlichen Kriegsverbrechern und Vertriebenen, zwischen Buddhisten und Muslimen vermitteln.

Im vergangenen Jahr müssen 700.000 muslimische Rohingya vor der exzessiven Gewalt des myanmarischen Militärs fliehen, ihre Dörfer werden zerstört. Die Muslime gehören zu einer Minderheit im Gliedstaat Rakhine, die in Myanmar seit Jahrzehnten staatlich verfolgt wird und keine Bürgerrechte hat.

Ende 2017 entscheiden die UN, dass eine Sondergesandte in Myanmar vermitteln soll.

“Das passiert immer dann, wenn die Weltgemeinschaft in einem Konflikt nicht mehr weiterweiß”, erklärt Laurent Goetschel. Der Professor für Politikwissenschaft ist Direktor von Swisspeace, einem unabhängigen Schweizer Institut, das sich weltweit in der Konflikt- und Friedensforschung engagiert.

Ein UN-Sondergesandter ist also die personifizierte letzte Chance in einem Konflikt ohne Zuversicht und Hoffnung. Wer den Job antritt, muss größenwahnsinnig sein und gleichzeitig bereit, kläglich zu scheitern.

Es ist der 25. April 2018, ein Mittwoch, kurz nach drei Uhr in der Nacht, als das Handy von Christine Schraner Burgener klingelt. Sie erwacht in ihrem Bett im Hotel Bellevue in Bern. Die Diplomatin ist damals Schweizer Botschafterin in Deutschland und begleitet den Deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf seinem Staatsbesuch in der Schweiz. Das Telefon liegt eingeschaltet auf dem Nachttisch.

Auf dem Display leuchtet die Vorwahl 01. “Ich dachte: Oh, New York, wer könnte das sein?”, sagt Schraner Burgener. Es ist ein Mitarbeiter von UN-Generalsekretär António Guterres. Er fragt die Botschafterin, ob sie noch immer Interesse habe, UN-Sondergesandte für Myanmar zu werden.

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