/Patrick Modiano: Gespenster namens Mireille, Martine, Geneviève

Patrick Modiano: Gespenster namens Mireille, Martine, Geneviève

Der Begriff “ghosting” wurde erst im digitalen
Zeitalter populär. Doch Jean, der Ich-Erzähler in Patrick Modianos neuem Werk, ist
bereits in den 1960er-Jahren ein Meister des unbemerkten Verschwindens: “Schon
so viele Lügen, um mir Leute vom Hals zu schaffen, so viele Häuser mit zwei
Ausgängen, um sie auf dem Trottoir stehenzulassen, so viele Verabredungen, zu
denen ich nicht hinging …” Lässt er sich mit zwielichtigen Gestalten ein,
suchen seine Augen stets die Hintertür; steigt er zu einer schönen Unbekannten
ins Auto, behält er sich die gesamte Fahrt über vor, an der nächsten roten
Ampel aus dem Wagen zu springen.

Kein Wunder vielleicht bei einem wie Jean, “der seit Kindheitstagen
an das Verschwinden von Menschen gewöhnt war”. Auch wenn seine unglückliche
Jugend lediglich in schlaglichtartigen Miniaturen
erhalten ist: die einsamen Streifzüge durchs Pigalle-Viertel, wo seine Mutter
als Schauspielerin arbeitet, die Schwarzmarktgeschäfte des Vaters in der
Nachkriegszeit. Vieles davon entspricht Modianos Schilderungen in seinem
autobiografischen Bericht Ein Stammbaum – doch sollte man nicht den Fehler
begehen, Jean gleichzusetzen mit dem Autor-Ich. Vielmehr ist hier die Wirklichkeit
als Pfahlbau für die Fiktion zu verstehen: als Gerüst, das wieder
abgebaut wird, bevor der Roman das Licht der Öffentlichkeit erblickt – so
zumindest beschreibt es der angehende Schriftsteller in Modianos Vorgängerwerk Damit
du dich im Viertel nicht verirrst
.  

Ähnlich verhält es sich in Schlafende
Erinnerungen
, Modianos erster Veröffentlichung, seit er 2014 “für die Kunst
des Erinnerns” mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde.

Ankerpunkt der Rückbesinnung ist, wie in so vielen seiner mittlerweile
über 30 Romane, das Paris der Sechzigerjahre: Als nur pro forma an der Sorbonne
eingeschriebener “Phantomstudent” driftet der 20-jährige Jean durch Paris und
hält sich mit der “Vermittlung von Büchern” über Wasser, einer Tätigkeit, die
ebenso obskur bleibt wie das Treiben der meisten Menschen, die ihm begegnen. Politische
Ereignisse wie der Algerienkrieg bilden ein vages Hintergrundrauschen, aus dem
sich Jeans Zufallsbekanntschaften umso schärfer
herausschälen.

Meist sind es fragile Femmes Fatales, denen Jean ein paar
Wochen oder einen Sommer lang verfällt, umgeben von einem Dunstkreis lichtscheuer Männer, die
möglicherweise der Geheimpolizei angehören, möglicherweise aber auch bloß der
Fantasie eines empfindsamen Heranwachsenden entspringen, der zu viele
Detektivromane gelesen hat. Präzise
Beschreibungen und eine gewisse Verschwommenheit, in der sich das Irrationale
von Alpträumen und Kindheitsängsten spiegelt, sind bei Modiano kein
Widerspruch. Seine Finesse besteht gerade darin, mithilfe einer exakten Sprache eine Atmosphäre zu schaffen, der zugleich etwas
Traumwandlerisches anhaftet. Sämtliche Identitäten, die durch die Nachzeichnung
ihrer Routen, durch konkrete Orts- und Straßennamen eingekreist werden könnten,
bleiben letztlich ungesichert.

Nicht nur Jean selbst, auch die Frauen, denen er in dieser
Zeit begegnet, neigen dazu, von einem Tag auf den anderen spurlos zu
verschwinden. Mireille, Martine, Geneviève, Madame Hubersen, Madame Péraud. Fünfzig
Jahre später murmelt der Ich-Erzähler ihre Namen vor sich hin wie eine
Zauberformel, in der Hoffnung, neue Namen, Orte, Empfindungen mit an die
Oberfläche zu ziehen. “Paris ist für mich übersät mit Gespenstern, so zahlreich
wie die Metrostationen, all die Punkte auf dem Netzplan, die aufleuchteten,
wenn man die Knöpfe für eine Verbindung drückte.”

Doch auf Knopfdruck setzt
sich die Vergangenheit nur selten zusammen. “Um mit Gespenstern umzugehen, muss
man sie ködern mit Fleisch der Gegenwart”, schrieb Ruth Klüger  in ihrem autobiografischen Erinnerungsbuch weiter leben. Modiano dienen als Köder nicht nur versprengte Namen in
Notizbüchern, sondern vor allem die psychogeografischen Erkundungstouren
seiner Erzähler, auf denen sich Vergangenes und Gegenwärtiges wie unzählige
halbdurchsichtige Folien übereinanderschieben. Auch wenn Geneviève, Mireille und die anderen längst umgezogen oder sogar tot sein mögen, bleiben bestimmte Ecken,
Lokale und Straßenzüge aufgeladen mit ihrer Präsenz.

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