/Jason Lutes: Eine Ahnung von Weimar

Jason Lutes: Eine Ahnung von Weimar

Ja, das Timing. Ist es nun günstig, wenn ein
Comic, dessen Handlung im Berlin der letzten Jahre der Weimarer Republik spielt, gerade in
diesen Monaten erscheint? Jetzt, da diese wuchtige Kulisse in allen Medien und Köpfen ist, wegen der öffentlich-rechtlichen Ausstrahlung von Babylon
Berlin
? Oder ist das Timing schlecht, geht Berlin: Flirrende Stadt von Jason Lutes einfach unter im allgemeinen Babylon-Berlin-Rauschen? Es gab ja auch noch eine
ARD-Hörspielfassung der Buchvorlage des Schriftstellers Volker Kutscher, dessen
neuester Roman der Reihe Marlow Ende Oktober zu allem Überfluss ebenfalls
erschienen ist.

Jason Lutes: Eine Ahnung von Weimar


© Carlsen Verlag

Und vielleicht hat so sogar schon eine gewisse Übersättigung  an der Zwanzigerjahre-Verwurstung eingesetzt und alle haben langsam genug
Kommunistenkämpfer mit Leninbärtchen gesehen und Frauen mit Bobfrisuren unter
Glockenhüten; und immer wieder das Elend in den überfüllten
Arbeiterquartieren, die Swingpartys, die Straßenbahnen, die Eckkneipen, dieser
niemals enden wollende Rausch der schlaflosen Hauptstadt der Moderne.

Eines kann man Flirrende Stadt aber wirklich nicht
vorwerfen: dass das Buch auf einen fahrenden Zug aufspringt. Bereits seit 1996
arbeitet der US-amerikanische Zeichner Jason Lutes an seinem Berlin-Zyklus,
der in den USA über die Jahre in 22 Einzelheften erschienen ist. In Deutschland
kamen die ersten acht Folgen 2003 bei Carlsen gebündelt als Berlin: Steinerne
Stadt
heraus, 2008 folgte Bleierne Stadt und nun eben das Finale. Knapp 600
Seiten sind es insgesamt, ab Ende Dezember gibt es sie bei Carlsen auch kompakt
in einem Band.

Nazis und Kommunisten

22 Jahre sind eine lange Zeit. Seitdem hatten wir den
glücklicherweise schon wieder beendeten Elektroswingtrend. Wir hatten
ungezählte Vergleiche zwischen Berlin als Partyhauptstadt der Zwanziger-, der Neunziger- und der Nullerjahre, wir hatten die Restaurierung von Die Sinfonie der Großstadt
und vieles mehr. Als Lutes mit seiner Reihe anfing, war er
noch Pionier, der ein historisches Feld erstmal bestellen musste. Entsprechend
basal erscheint das Figurenensemble seiner Comicreihe – auf den ersten Blick
fast ein wenig einfallslos, als müsste er pflichtbewusst sämtliche Milieus
abhaken, die eine Beschäftigung mit Berlin der Weimarer Republik eben mit sich
bringt.

Da ist die Arbeiterfamilie,
in der sich stellvertretend der erbitterte Konflikt von Nazis und Kommunisten
abspielt. Da ist die jüdische Familie, die den wiedererstarkenden
Antisemitismus immer stärker zu spüren bekommt. Da ist die dekadente
Gesellschaftsdame aus besserem Hause, die alle Freiheiten in Sachen Drogen und
ausschweifender Sexualität auskostet. Da ist die kurzhaarige lesbische Frau,
die eigentlich lieber als Mann gesehen werden würde und in Berlin auch Orte
findet, an denen das möglich ist, ein Ausdruck für die Bedeutung Berlins als die
queere Stadt der Zwanziger. Da ist der linke, politisch denkende Journalist,
ein Melancholiker, der natürlich für die Weltbühne schreibt, und die
junge Kunststudentin, die frisch aus der Provinz nach Berlin kommt und sich
bereitwillig von Berlin einsaugen lässt.

Dabei verzichtet Lutes auf
Hauptfiguren und breitet seinen Stoff in vielen parallelen Handlungssträngen
aus, die sich allenfalls beiläufig berühren. Er wirft sein Personal in die
Stadt und schaut, was ihm passiert. Einen vorbereiteten Handlungsbogen hatte
er nicht, die Entscheidungen traf er beim Zeichnen. Das einzige Gerüst
bilden historische Ereignisse und Personen: Joachim Ringelnatz, Josephine Baker
und Joseph Goebbels treten auf, die Unruhen rund um den 1. Mai 1929, in denen die Berliner Polizei zahlreiche Kommunisten erschoss, spielen eine Rolle, genauso
wie der Tod Gustav Stresemanns und der von Horst Wessel, mehrere Reichstagswahlen und der Prozess gegen
Carl von Ossietzky.

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