Seit Wochen besetzen die Gelbwesten-Demonstranten zahllose Kreisverkehr-Rondelle überall in Frankreich. Die Ronds-Points sind zum Herzstück der französischen Revolte geworden. Zunächst wurden sie mit Lkw blockiert, später kamen Holzbaracken, Barbecues und Schlafplätze hinzu. Vor allem auf dem Land wurden die Kreisverkehre so zu Räumen der Kommunikation zwischen Menschen, von denen viele bislang nie gewählt oder demonstriert haben, weil sie der Meinung waren, es nütze sowieso nichts, sich mit Politik zu befassen. Das ändert sich gerade. Frankreichs Abgehängte suchen nach Wegen, sich zu artikulieren.
Nach ihren Motiven befragt, erzählten die Protestler in den gelben Warnwesten, die Gilets Jaunes, in französischen Medien, anders als in den sozialen Netzwerken mit ihren virtuellen Freundeskreisen, verbringe man am Rond-Point viel Zeit damit, sich auszusprechen und einander seine Lebensgeschichten zu erzählen. Zuvor hatten etliche derer, die Frankreich in Atem halten, ihre Lage als sozial Isolierte erlebt. Sie fühlten sich von keiner Partei repräsentiert und von der globalisierten Wirtschaft marginalisiert. Über die Scham, das Schweigen und das Gefühl des Scheiterns hatte Didier Eribon in seinem autobiografischen Roman „Rückkehr nach Reims“ geschrieben, ein Riesenerfolg, auch außerhalb Frankreichs.
Ausgerechnet am Kreisverkehr wird die Einsamkeit nun überwunden – an einem denkbar unwirtlichen Ort. Leicht scherzhaft wird sogar der Vorschlag gemacht, die ephemeren Treffpunkte doch in Kulturzentren zu verwandeln, in Keimzellen einer Urbanität im toten Raum. Die Tageszeitung „Le Monde“ fragt, ob die Ronds-Points nicht die neue Agora geworden seien.
Innenminister Christophe Castaner lässt die Kreisverkehre inzwischen allerdings räumen, ob der Verkehr nun blockiert wird oder nicht. An ihrer symbolischen Bedeutung für die Gilets Jaunes ändert das kaum etwas, kam die Revolte doch selber „aus dem Nichts“ wie Vertreter der intellektuellen Elite gerne betonen. Da ist es nur folgerichtig, dass sie sich ausgerechnet an einem Nicht-Ort angesiedelt hat. Nicht-Ort, altgriechisch „Utopos“: Hier wird die Utopie einer neuen Gesellschaftlichkeit erprobt. Mitten im Nirgendwo.
Ein Nicht-Ort wird zur neuen Agora: der Rond-Point als Utopie
Historisch betrachtet, sind die Ronds-Points dennoch kein zufälliger Schauplatz, lassen sie sich doch als Symptome einer Zersiedelung ansehen, die die gegenwärtige Malaise mit verursacht hat, seit den fünfziger Jahren, mit katastrophalen ökologischen und sozialen Folgen. Das alte Dorf, das Gewerbegebiet, die Sozialbausiedlung, die Eigenheimsiedlung, all das liegt verstreut und weit auseinander. Und in der leeren Mitte: der Rond-Point.
Die Metropolen, in denen die neue Schicht der Globalisierungsgewinner über Ökologie und die Zukunft des Verkehrs nachdenkt, liegen oft über hundert Kilometer entfernt. Auch von der Agrargesellschaft, wie sie in alten Vorstellungen noch herumgeistert, ist nichts geblieben. Die lokalen Bauern sind verschwunden, ebenso der Einzelhandel und die ländliche Infrastruktur.
Allen Zivilisationsmoden der späten Moderne ist eines gemein: Sei es die industrielle Landwirtschaft, das Eigenheim im Grünen oder der „Hypermarché“, der Riesensupermarkt, sie haben einen gigantischen Flächenverbrauch zur Folge. Und sie brachten die Zerstörung traditioneller Zusammenhänge und Arbeitsplätze mit sich, außerdem lange Arbeitswege, die nur mit dem Auto zu bewältigen sind. In Frankreich spaltet sich die Gesellschaft inzwischen in eine reiche urbane Klasse, die bestens ohne Auto lebt, und eine arme Provinz, die auf den Pkw angewiesen ist. So feiert nicht nur der Begriff der Klassengesellschaft eine Renaissance, der Protest richtet sich auch gegen ein Zivilisationsmodell aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an dem zahlreiche Kommunen bis heute festhalten: an der vom „Plan local d’urbanisme“, von den Raumordnungsplänen sanktionierten Zerstörung von Gesellschaftlichkeit.
Die „Écolo-Bobo“, die Vertreter des Öko-Bürgertums, haben gerade in Rekordzeit fast zwei Millionen Unterschriften für die Kampagne „Affaire du siècle“ gesammelt. Sie will den Staat mit juristischen Mitteln zu einer konsequenten Umweltpolitik zwingen. „Fin du monde, fin du mois, même combat“, sagen auch die Gelbwesten: Weltende, Monatsende, derselbe Kampf. Deren erste Forderung war nämlich die Abschaffung der neuen Öko-Steuer auf Kraftstoffe, dennoch wollen sie sich nicht als Hemmschuh für den ökologischen Umbau verstanden wissen.
Für die Gilets Jaunes stellt sich die Frage, welche Infrastrukturleistungen sie überhaupt für ihre Steuern und Abgaben bekommen. Entlang der TGV-Trassen, auf denen die Pariser zu ihren Ferien- und Wochenenddomizilen fahren, wurden Gentrifizierungsschneisen in die Provinz geschlagen, Billigflieger bringen die englische Gentry über Provinzflughäfen zu ihren Refugien. In solchen Zonen sehen sich alte Dörfer mit intakter Architektur aufgewertet, dort hat sich die Infrastruktur erholt. In den unattraktiven Zersiedlungsräumen dagegen sind Bahnhöfe, Poststationen und Bäckereien verschwunden.
Viele Städter kommen gut ohne Auto aus – undenkbar in der Provinz
Allenthalben setzt Frankreich auch über die Feiertage die Gelbwestendebatte fort. Man spürt, dass die traditionellen Erklärungsmuster versagen, die Revolte lässt sich nicht im Links-Rechts-Schema verorten. Zwar versuchte Marine le Pens Rassemblement National vor allem in den digitalen Netzwerken, fremdenfeindliche Positionen bei den Gilets Jaunes zu etablieren. Vor Ort, auf den Ronds-Points, hielten Anhänger von Jean-Luc Mélenchons Bewegung „La France insoumise“ dagegen.
Die Wähler in den geografischen Randlagen haben sich schon vor Jahren von den Parteien der politischen Mitte abgewandt. Le Pens Partei (vormals der Front National) verzeichnete dort neun Prozent mehr Wähler als im nationalen Durchschnitt. Ob sich das jetzt ändert? „Le Monde“ zitiert Elsa, eine junge Übersetzerin, die an einem der Kreisverkehre witzelt: „Es ist Macrons Verdienst, dass Leute, die dem Front National nahe stehen, jetzt mit Anhängern von ,La France insoumise‘ reden.“
Die mit Gasmasken ausgestatteten Pariser Streetfighter haben mit den ersten politischen Gehversuchen von Niedriglohnempfängern und Rentnern in der Provinz außer der gelben Weste jedenfalls wenig gemein. Versuche der Regierung, die Gilets Jaunes etwa mit dem Hinweis auf antisemitische Randerscheinungen zu diskreditieren, dürften ins Leere gehen. Zu zahlreich sind mittlerweile die Medienauftritte von Intellektuellen, die für die Revolte kohärente Erklärungen haben: Die französische Gesellschaft ist gespalten in linke und rechte Globalisierungsgewinner einerseits und linke und rechte Globalisierungsverlierer andererseits, die die Trikolore hochhalten und die Marseillaise brüllen, weil das neoliberale Maastricht-Europa für sie nur Nachteile gebracht hat.
Die Revolte der Gilets Jaunes sei, so sagt es der Essayist und Unternehmer Charles Gave, die erste Revolution seit 1789, die nicht von links kommt. Kein Klassenkampf, sondern ein geografischer Krieg zwischen einer Gesellschaftsgruppe, die sich überall auf der Welt zu Hause fühlt, und einer, die lokal beheimatet ist. Was auf dem Spiel steht, sei der Wunsch und die Fähigkeit der beiden Gruppen, zusammenzuleben. Kreisverkehre verbinden nicht nur, sie sorgen auch für getrennte Wege.
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