Die mitteljungen Ostdeutschen haben ein besonderes Privileg: Ihre
Vergangenheit in der ehemaligen DDR wird öffentlich dauerpräsent gehalten. So mancher legt
sich deshalb vielleicht eine Geschichte zurecht, die er dann für sein Leben hält. Warum auch
nicht? Wer weiß, woher er kommt, weiß auch besser, wer er ist.
Allerdings sind viele Ostdeutsche stark fixiert darauf, sich abzugleichen, ins Verhältnis zu setzen – vor allem mit der alten Bundesrepublik und ihren Maßstäben. Wie sollte es auch anders sein, wenn die dort entwickelten Narrative vom “guten Leben” den Diskurs der Weltdeutung beherrschen?
Nur verbauen sich die Ostdeutschen mit ihrem Streben nach Angleichung, Arrondierung und Lückenschluss neue Wege. Sie lähmen sich. Bei allem Pragmatismus sollten wir eines nicht vergessen: welches Potenzial ungenutzt bleibt, wenn alle Kraft darauf gerichtet ist, weiter “aufzuholen”, sich in Habitus-Imitation zu üben oder sich passiv-aggressiv abzugrenzen. Dies ist intellektuell fatal und auch gar nicht mehr notwendig. So paradox es klingt: Je mehr wir die Welt entlang des Vergleichs mit den alten Bundesländern beschreiben – und in deren Denkmustern erklären –, desto eher erzählen wir an uns vorbei und verpassen uns damit selbst. Erst in der Überwindung dieser Abhängigkeit vom Westen kann eine reife und selbstbestimmte kollektive Identität entstehen, in der Ostdeutsche nicht über und nicht unter anderen stehen.
Der nüchterne Blick auf die geringere Wirtschaftskraft, die ärmeren Eigentumsverhältnisse und nicht zuletzt die fehlende Repräsentanz in den gesellschaftlichen Eliten gibt jenen recht, die auch für die nächsten 100 Jahre fortdauernde Nachteile für die neuen Länder und ihre Bewohner vermuten. Aber das ist kein Grund zur Resignation.
Ja, die materiellen Unterschiede zwischen Ost und West sind riesig. Aktuelle Zahlen zu Gehaltsunterschieden und – vielleicht noch wichtiger – zu den vererbten Vermögen zeigen, wie abgrundtief die Kluft ist. Dies gilt auch für Einstellungen und Werthaltungen in grundlegenden Lebensfragen sowie zum sozialen Zusammenhalt. Klar, es finden sich auch immer gute Gründe, warum der Osten hinterherhinkt. Allerdings: Wer nicht ständig hinterherläuft, kann auch nicht hinterherhinken.
Reifer und innovativer wäre ein mutiges Bekenntnis zu Eigenheiten, die im Kern bewahrt oder wiedererweckt werden sollen. Wie in jeder guten Beziehung gilt es, das Trennende zu erkennen, um das Gemeinsame sehen zu können.
Das in letzter Zeit zu beobachtende neue Selbstbewusstsein der Ost-Ministerpräsidenten ist sicher ein Signal. Langsam übernehmen außerdem mehr junge Menschen mit ostdeutschem Hintergrund Verantwortung in der Region. Ein neuer Ton braucht neue Tonmacher. Hier sind Intellektuelle – Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und junge Unternehmerinnen – gefragt, Worte zu finden und Szenarios zu entwickeln. Was können jüngere Ostdeutsche anders machen, anders sehen?
Gerade weil Ostdeutsche keine guten Erfahrungen mit Visionen vom besseren
Morgen gemacht haben, sind sie prädestiniert, radikal pragmatisch zu denken und den Lauf der
Geschichte als etwas wenig Planbares zu verstehen. Optimistisch den kleinen Schritt zu machen
und den gefährlichen Verführungskräften einer großen Vision zu widerstehen, das wäre doch
etwas. Ein Bekenntnis zu einer Art visionsloser Vision.
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