In ihrem Buch “LikeWar: The Weaponization of Social Media” schildern die beiden US-Autoren Peter W. Singer und Emerson T. Brooking, wie die sozialen Medien zu einem virtuellen Kriegsgebiet werden konnten. Es kämpfen dort unübersichtlich viele Akteure mit den Mitteln der Propaganda und Desinformation: Gerade Russland hat das vor knapp fünf Jahren im Ukraine-Konflikt gezeigt. “LikeWar” ist im Oktober in englischer Sprache bei Houghton Mifflin Harcourt erschienen. Dies ist ein Vorabdruck eines Kapitels daraus, das im Original “The War You Cannot See” heißt.
“Um den Prozess einer ‘prorussischen Strömung’ auf der Krim und in der Ostukraine auszulösen, sollten zuvor bestimmte Vorkommnisse organisiert werden, die diesen Prozess mit politischer Legitimation ausstatten und mit moralischer Rechtfertigung; zudem sollte eine PR-Strategie entworfen werden, die darauf hinweist, dass das Handeln Russlands und der prorussischen politischen Elite in der Süd- und Ostukraine erzwungen wurde und reaktiver Natur ist.”
Anfang 2014 kursierte im Kreml dieses Strategiepapier, in dem Schritte skizziert wurden, die Russland für den Fall unternehmen sollte, dass der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch, der die Ukraine damals autokratisch regierte, aus dem Amt gejagt würde. Die Autoren des Papiers forderten, Russland müsse darauf vorbereitet sein, um dann dort eine neue politische Lage herzustellen: Die “zentrifugalen Sehnsüchte” der in der Ukraine lebenden ethnischen Russinnen und Russen sollten manipuliert werden, sodass diese ihre Unabhängigkeit von der Ukraine erklären würden. Im Kern stand dort: Würde der eigene Statthalter aus der Ukraine verjagt, müsse Russland bereit sein, einen Krieg zu beginnen.
Tatsächlich floh der unpopuläre Janukowitsch nur Wochen später aus der Ukraine, unter dem Eindruck der Bürgerproteste, die bald als “Euromaidan” bekannt wurden. Dass der Name der Revolte einem Twitter-Hashtag entnommen war (zusammengesetzt aus “Europa”, weil die Demonstranten eine Hinwendung der Ukraine nach Europa statt Russland befürworteten, und dem Namen des Platzes in Kiew, auf dem die Proteste stattfanden, “Maidan Nesaleschnosti”), zeigte die wachsende Bedeutung der sozialen Medien. Doch so, wie sich die Revolutionäre zuvor über das Netz organisiert hatten und ihren Gegner Janukowitsch verjagt hatten, so nutzte Russland es nun, um die Ukraine zu spalten.
Die Strategie hinter der Operation erklärte Dmitri Peskow, Putins lang dienender Pressesprecher, in einem Interview im Jahr 2017. Bemerkenswert war nicht nur, wie offen Peskow darin Auskunft gab, sondern woher er seine Ideen bezog. Er sprach von “einem neuen Interessenkonflikt” zwischen Russland und dem Rest der Welt, der durch die sozialen Medien hervorgerufen worden sei. Er äußerte sich zudem bewundernd über den unglaublichen Einfluss neuer Onlinemächte und nannte als eine davon: Kim Kardashian. “Stellen wir uns einmal vor, sie würde eines Tages sagen: ‘Liebe Follower, bitte tut dieses oder jenes'”, sagte er. “Dann würde dieser Aufruf von Abermillionen Menschen ernst genommen.” Und das, obwohl Kardashian über “keinen Geheimdienst, kein Innenministerium, kein Verteidigungsministerium, keinen KGB” verfüge.
Die Konsequenz daraus war eindeutig: Russland besaß all diese Institutionen – und im Gegensatz zu Kim Kardashian würde es sie für wichtigere Kämpfe benutzen als einen Kleinkrieg mit Taylor Swift. “Die neuen Realitäten bieten eine perfekte Gelegenheit dafür, Massenunruhen anzustiften, massenhafte Unterstützung zu initiieren oder massenhafte Ablehnung”, sagte Peskow. Social Media werde das Schlachtfeld für “eine informationelle Katastrophe – einen informationellen Krieg”.
Die Ukraine war dafür der Testfall. Die Menge negativer, in russischer Sprache verfasster Berichte über das Nachbarland verdoppelte sich erst, dann verdreifachte sie sich. Ethnische Russinnen und Russen, die in der Ukraine lebten und ohnehin bereits beunruhigt waren durch die Entwicklungen im Land, kochten bald regelrecht über vor Ressentiments gegen die Aktivisten, die die von den ethnischen Russen unterstützte Regierung gestürzt hatten. Währenddessen infiltrierten russische Geheimkommandos zunächst die Krim und später die Ostukraine, wo sie prorussische Separatistengruppen bildeten und bewaffneten. Erst gab es Protestwellen, dann brach Gewalt aus, schließlich geschah eine Tragödie.
Der Moment, in dem die Situation kippte, vollzog sich in Odessa. Dort hatten sich nach schweren Auseinandersetzungen Dutzende prorussische Demonstranten – viele von ihnen bewaffnet – in ein Gewerkschaftshaus aus der Sowjetzeit zurückgezogen. Das wurde von außen beschossen und mit Molotowcocktails beworfen, schließlich brach ein Feuer in dem Gebäude aus. Mindestens 31 Menschen starben darin.
Die Geschehnisse boten Russland die Gelegenheit, seine “PR-Strategie” noch mal zu intensivieren. Es nutzte die Tragödie im Gewerkschaftshaus geschickt aus, indem es eine Medienkampagne startete, gegen die die Ukraine machtlos war. Der russische Sender RT veröffentlichte grauenhafte Details, die sich unmöglich verifizieren ließen: Proukrainische Demonstranten seien durch das Flammenmeer gerannt, um prorussische zu “erwürgen”; “17-jährige Hooligans erschlugen Leute mit Schlagstöcken”. Heerscharen von Trollen teilten im Netz die Story, die dann von eher randständigen Medien auf der ganzen Welt aufgegriffen wurde. “US-Medien verschweigen Massenmord in Odessa”, titelte etwa das US-Organ InfoWars. Die russische Regierung bediente sich währenddessen der Schlagzeilen, die sie selbst zu schreiben in Auftrag gegeben hatte. Der russische Außenminister etwa erklärte, angesichts dieser Gräueltaten sei es die Pflicht Russlands, “es nicht zu dulden, dass der Faschismus sich in Europa und auf der ganzen Welt verbreitet”.
Im Laufe der Zeit wurden die Schilderungen vermeintlicher Gräueltaten zunehmend gruseliger. Russische Staatsmedien berichteten, ukrainische Soldaten hätten ein dreijähriges Kind bis auf seine Unterwäsche ausgezogen und dann “genau wie Jesus” gekreuzigt – bevor sie die Mutter des Mädchens an einen Panzer gebunden und über den örtlichen Platz geschleift hätten. Es gab nicht die geringsten Belege für diese Schilderungen, doch die brauchte es auch nicht. Es ging nicht darum, wahrheitsgemäß zu berichten. Sondern darum, eine Invasion zu rechtfertigen.
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