Alle wieder hinlegen, die Sache hat sich erledigt. 166.000 Asylanträge in diesem Jahr, das ist doch ein Klacks. Da hat Deutschland schon ganz anderes erlebt. Von so niedrigen Zahlen hat nicht einmal die CSU geträumt, als sie in der Koalition eine Obergrenze für Flüchtlinge durchsetzte. Die sieht eine Spanne zwischen 170.000 und 220.000 Menschen vor. Und nun wird die Zahl der neu gestellten Anträge voraussichtlich nicht einmal die Untergrenze dieses Deals berühren.
Drei Jahre nach der großen Flüchtlingsbewegung greifen die Maßnahmen der Europäer: Das EU-Türkei-Abkommen hat den Weg für die meisten Flüchtlinge aus Syrien und dem Mittleren Osten verrammelt, die Grenzschließungen an der Balkanroute taten ihr Übriges. In Niger, einem der westafrikanischen Hauptdurchgangsländer auf dem Weg zur Mittelmeerküste, wurde es auf Druck der EU gesetzlich verboten, Migranten zu transportieren. Im zentralen Mittelmeer hat Italien die private Seenotrettung weitgehend unterbunden und gemeinsam mit der EU die libysche Küstenwache ausgestattet und trainiert. Wer sich jetzt noch auf ein Boot wagt, wird nach Libyen zurückgebracht. Europas Grenzen sind nicht vollständig geschlossen. Immer noch gelingt es Menschen, sie zu überwinden, beispielsweise indem sie versuchen, nach Spanien überzusetzen. Aber im Großen und Ganzen scheint das Problem unter Kontrolle zu sein.
Der Preis dafür ist allerdings hoch.
In Geld lässt sich das noch halbwegs darstellen: Die Türkei erhält insgesamt sechs Milliarden Euro an Flüchtlingshilfe, Niger rund eine Milliarde. Hinzu kommen 3,9 Milliarden für den Afrika-Treuhandfonds, aus dem mehr als 200 Projekte finanziert werden sollen, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Dann sind da noch die Kosten für den Ausbau der europäischen Grenzsicherung. Sie steigen von 2021 an von bislang 13 Milliarden Euro im Jahr auf dann 35 Milliarden.
Empörung hilft nicht weiter
Die menschlichen Kosten wiegen noch viel schwerer. Seit 2000, so hat das Europäische Parlament berechnet, sind rund 30.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. In diesem Jahr starben dort bislang mehr als 2.200 Flüchtlinge, hat die Internationale Organisation für Migration gezählt. In Libyen toleriert Europa unmittelbar vor seiner Haustür einen Sklavenmarkt, in dessen Lagern Menschen seit Jahren gequält, vergewaltigt und gefoltert werden. Und in Deutschland gelingt es den Behörden nicht einmal, die überschaubare Zahl von 1.000 Anträgen auf Familienzusammenführung im Monat zu bewältigen. An solchem Unvermögen zerbrechen Familien – und es scheitert selbst die Integration von so gesuchten Berufsgruppen wie Programmierern.
Allerdings bringt es wenig, sich über all das zu empören. Das einzige, was hilft, ist: weiterarbeiten, mit einem angemessenen Maß an Empathie und Konsequenz.
Beispiel Libyen: Das Problem dort lässt sich nicht lösen, indem man Warlords finanziert und Menschen zurück in die Hölle schickt. Europas Geheimdienste kennen sich aus im Land, sie kennen die Täter genau und könnten sie unter Druck setzen. Oder ist sogar ein Militäreinsatz nötig? Man kann das falsch finden – doch wer den Gedanken sofort von sich weist, lässt genau die Konsequenz vermissen, die es den Menschenverächtern so leicht macht, ihr Geschäft zu betreiben.
Oder die Frage, wie Verfolgte überhaupt auf Europas Schutz hoffen können, ohne sich auf die lebensgefährliche Reise machen zu müssen. Humanitäre Visa könnten Schutzsuchenden schon im Heimatland durch europäische Botschaften erteilt werden. Europas Staaten könnten auch eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen, die sie für besonders schutzwürdig halten, legal und sicher einreisen lassen.
Einfach ist das alles nicht, im Gegenteil. Doch wenn Europa die Kosten der Migration dauerhaft senken will, hilft es nicht, sich aus Angst abzuschotten und kleinzumachen. Kein Kontinent ist so reich, kein Kontinent hat so viel Erfahrung damit, wie sich die Folgen von Flucht und Vertreibung bewältigen lassen. Europa sollte endlich auf seine eigene Stärke und Gestaltungskraft vertrauen.
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