Es gibt da eine Szene wie aus einem Lehrbuch in dem Kinofilm Feuchtgebiete (2013), basierend auf Charlotte Roches gleichnamigem Roman. Als Negativbeispiel muss dazu gesagt werden: Der Raum ist düster, obwohl draußen die Sonne scheint. Orientalische Teppiche sind auf dem Boden ausgebreitet, Plastikstühle reihen sich an der Wand. Ein nackter, ernst blickender Mann mit dicht behaarter Brust kniet sich vor einer jungen, ebenso nackten Frau hin. Sie hat sich auf einem Sofa niedergelassen und die Beine gespreizt. Er zieht eine Stirnlampe tiefer ins Gesicht. Die beiden kennen sich von der Arbeit, er heißt Kanell und er hat die Frau zu sich eingeladen, um ihr Vulvahaar zu rasieren. Die Frau ist Weiß. Der Mann ist Schwarz. Er ist die einzige nicht-weiße Figur im ganzen Film.
Die Szene verrät in wenigen Minuten unmissverständlich und exemplarisch, was für viele Menschen im Deutschen Film schief läuft: Der nicht-weiße Charakter, wenn er überhaupt auftaucht, ist der Fremdling, Sonderling, der Exot, als Mann oft sexuell übergeladen. Rollenschablonen, die nicht-weißen Schauspieler*innen buchstäblich auf den Leib geschrieben werden. Selam Tadese heißt der deutsche Schauspieler, der in Feuchtgebiete die Figur des Kanell verkörpert. Ob er schon mal eine Rolle angeboten bekommen habe, die nicht auf seine Hautfarbe oder vermeintliche Herkunft zugeschnitten war, möchte ich von ihm wissen. Selam muss nicht lange überlegen: „Nein. Ich habe noch nie eine sogenannte typisch deutsche Rolle bekommen.“ Was ist dabei eigentlich typisch Deutsch? Für viele Filme- und Fernsehmacher*innen sind es Schauspieler*innen wie Selam nicht.
Jahrelang habe ich versucht, in Deutschland erfolgreich zu sein – vergeblich
Selam, Schauspieler
Anfang September in Berlin. Während um 19 Uhr die Abenddämmerung das Ende des Tages ankündigt, ist Selam gerade erst aufgestanden. Es ist 10 Uhr und er schlürft verschlafen und freundlich blickend auf meinem Computerbildschirm an seiner Kaffeetasse. Grelles Sonnenlicht scheint aus dem Fenster hinter ihm in die Webcam. Man fragt sich, wie es dahinter aussieht auf den Straßen von Los Angeles. 9.000 Kilometer Entfernung und neun Stunden Zeitverschiebung trennen Selam von Berlin, der Stadt, die er vor einem halben Jahr verließ. Selam ist jetzt in Hollywood.
Dass Selam eigentlich ein lebhafter, fast beschwingter Mensch ist, kann im ersten Augenblick überraschen, wenn man ihn nur aus Filmszenen wie aus Feuchtgebiete kennt. Selam lacht beinahe ununterbrochen. Sein Lachen ist gluckernd und jugendlich, wie auch sein Sprechen. Doch die dunklen Augen werden von feinen Falten gerahmt. Selam ist 38 Jahre alt, fast die Hälfte seines Lebens Schauspieler. Manchmal lacht er, weil er nicht fassen kann, dass er jetzt in „fucking“ Hollywood ist. Vor rund zwei Jahren nahm er dort an seinem ersten internationalen Casting teil und wurde sofort für den Pilotfilm einer HBO-Serie der Regisseurin und Oscar-Preisträgerin Kathryn Bigelow engagiert. Diese wurde zwar nicht weiterproduziert, dennoch: „Die Leute sagen: Du bist nicht umsonst hier. Du kannst was, du bist ein Guter. Anfangs verstand ich das nicht. Jahrelang habe ich versucht, in Deutschland erfolgreich zu sein – vergeblich“, sagt Selam. „Jetzt sehe ich aber, was eigentlich das Problem ist: Die deutsche Filmlandschaft ist sowas von rassistisch.“ Dann lacht Selam wieder. Da, wo andere den Kopf schütteln würden, sagt er: „Ich muss darüber lachen, weil ich es mit Humor nehmen muss.“
Die Vielfalt in der deutschen Realität ist im deutschen Film nicht angekommen
2006 gründete sich die Organisation Schwarze Filmschaffende in Deutschland (SFD). Das Vorstandsmitglied Carol Campbell, die selbst afro-deutsche Schauspielerin und Moderatorin ist, sagte damals in einem Interview, sie sehe kaum Menschen der Schwarzen Community dargestellt, als seien sie im Alltag angekommen. „Vielfalt ist auch in Deutschland heute keine Fantasie, sondern bereits Realität und Alltag […] Was ich sehe, sind immer noch diese tradierten, historischen Muster, diese alten Bilder einer vermeintlichen Realität, und was ich nicht sehe, ist das, was ich wirklich in der deutschen Wirklichkeit erlebe“, unterstrich sie wenige Jahre später in einem anderen Gespräch.
Auf dem Integrationsgipfel im Jahre 2006 sagte ein anderer afro-deutscher Schauspieler, Pierre Sanoussi-Bliss, in einer Rede: „Ich habe mir als Mitglied der Jury für die Lola, den deutschen Filmpreis, in der letzten Zeit etwa 60 deutsche Filme angeschaut. Das macht nicht unbedingt froh. Aber was mich wirklich traurig stimmt: Ich habe in keinem dieser Filme mitgespielt, und auch sonst taucht kein Leidensgenosse meiner Hautfarbe dort auf. Alles ist wie mit Persil gewaschen: reinweiß.“ Vor wenigen Jahren teilte Sanoussi-Bliss die Rede erneut in seinem Facebook-Profil mit dem Kommentar: „Diese Rede könnte ich seitdem monatlich halten und es würde sich nichts ändern…“ Dem würde Selam Tadese wohl auch zustimmen.
Eine Dramaturgin sagte mal: „Deutschland ist einfach noch nicht bereit für Schwarze Schauspieler“
Selam hat in den letzten Jahren mindestens 25 Rollenangebote als geflüchteter Mann bekommen. Die meisten davon seien sehr erniedrigend gewesen, erzählt er. Das habe nicht einmal etwas mit der Generation zu tun, auch junge Filmemacher*innen kämen mit solchen Rollen auf ihn zu. „Da frage ich mich: Wo habt ihr die letzten 15 Jahre eigentlich gelebt?“ Selam erinnert sich gut daran, wie er mal auf Mauritius bei einem Dreh einen Crew-Fotografen sagen hörte, die Kolonialherrschaft sei eine tolle Sache gewesen, während sich dieser von Schwarzen Kellner*innen bedienen ließ. Oder wie eine Dramaturgin mal zu ihm sagte: „Deutschland ist einfach noch nicht bereit für Schwarze Schauspieler.“
Stattdessen spielte Selam mal den obskuren Fremdling Kanell in Feuchtgebiete unter der Regie von David Wnendt, mal einen äthiopischen Arzt an der Seite von Jürgen Vogel, der in Der weiße Äthiopier (2016) die Figur Frank verkörpert, einen Weißen, der sich kurzerhand dazu entschließt, Äthiopier zu sein und einem Dorf mit vermeintlich großzügigen Spenden zum Wohlstand zu verhelfen. Dann sind da noch Filme wie Endlich deutsch! (2014) oder Immigration Game (2017). Insgesamt hat er in mehr als 20 Filmen mitgespielt und war viele Jahre am Theater.
In seiner Kartei steht: „Ethnische Typen: Gemischte Herkunft, Orientalisch, Schwarz-Sonstige Gegend, Schwarzafrikaner“
Das mit Äthiopien ist zumindest nicht all zu weit hergeholt: Selams Vater, der vor wenigen Jahren verstarb, kam aus Äthiopien, die Mutter aus Eritrea. In Kuweit haben sich die beiden kennengelernt. Dort kam Selam auf die Welt. Nach der Trennung der Eltern wandert die Mutter mit dem fünfjährigen Selam und seinem jüngeren Bruder nach Deutschland aus. Sie kommen in Baden-Württemberg an, Selam wächst in Ulm auf. Im „Schwabeländle“, wie er liebevoll sagt. Selam hat unter anderem in Köln und Berlin gelebt, aber er ist immer ein Schwabe geblieben. In seiner Kartei einer Schauspielagentur steht daher auch bei dem Stichpunkt Dialekte: „Schwäbisch (Heimatdialekt)“. Was in der Kartei jedoch auch steht: „Ethnische Typen: Gemischte Herkunft, Orientalisch, Schwarz-Sonstige Gegend, Schwarzafrikaner“.
Es habe Zeiten gegeben, in denen er zwei Jahre lang keine Agentur gefunden habe, was bei seiner Vita sehr unüblich ist. Er habe jedoch immer wieder gehört: „Du bist als Schwarzer Schauspieler zu schwer zu vermarkten.“ Selbstverständlich werden auch in den USA teils Rollen, die von Schwarzen oder Schauspieler*innen of Color verkörpert werden, mit rassistischen Stereotypen besetzt. Whitewashing ist ein großes Problem. Die Academy of Motion Pictures and Sciences steht seit Jahren in der Kritik, für die Oscar-Preisverleihung mehrheitlich weiße Schauspieler*innen zu nominieren. Doch immerhin tue sich da etwas, sagt Selam. Und es werde über diese strukturellen Probleme gesprochen. Anders als in Deutschland: Wie oft wohl ein nicht-weißer Schauspieler in den letzten zehn Jahren den Deutschen Filmpreis für die beste Hauptrolle gewonnen hat oder für ihn nominiert war? Genau: Gar nicht. Wie laut ist die gesellschaftliche Debatte darüber? Bei den Frauen gewann immerhin die Schauspielerin Sibel Kekilli im Jahre 2010 den Preis, übrigens für einen Film namens Die Fremde, in dem sie eine turko-deutsche Frau spielt, die sich gegen ihre tiefreligiöse und repressive Familie wehren muss.
Künstler*innen und Filmemacher*innen stünden seit Trump in den USA unter Druck, sagt Selam: Gerne beschwört der US- Präsident Verschwörungen herauf, wonach Medien- und Kunstschaffende mit falschen Abbildungen der vermeintlichen Realität Lügen verbreiten. „Die Leute sind richtig panisch“, sagt Selam. Vor kurzem habe er mit einer Casterin zusammengesessen, die plötzlich zu weinen angefangen habe, als sie sich über Trump unterhielten. „Und gerade deswegen wollen sie Themen wie Diversity im Film weiter pushen.“ In den USA würden sich Caster*innen für den Menschen hinter seiner Hautfarbe interessieren, so Selam, sie wären auf der Suche nach neuen Talenten und neuen Geschichten. In Deutschland sei das anders: Jederzeit ließen ihn Caster*innen und Produzent*innen das Abhängigkeitsverhältnis spüren. Und es herrsche Stillstand: Weil man zu sehr damit beschäftigt sei, den Kreis jener, die dazugehören dürfen, enger zu ziehen. „Deutschland ist definitiv eines der zurückgebliebensten Länder bei dem Thema“, sagt Selam.
Für Selam wurde die Ablehnung irgendwann zur Normalität. „Im Alltag, wenn ich in Berlin abhänge, weiß ich, dass ich einfach dazugehöre. Aber die Filmlandschaft hat mich eines Besseren belehrt. Das hat mich irgendwann zerrissen.“ Also hat er sich auf den Weg gemacht, nach Hollywood. Heute denkt er, dass man nicht warten darf, bis sich etwas ändert. „Denn das wird es nicht, solange immer noch dieselben Leute in den Produktionsfirmen und Redaktionen sitzen. Je mehr Leute sagen, dass sie da nicht mehr mitmachen, desto eher ändert sich etwas.“
Dabei gehört Selam nach Berlin wie ein Fisch ins Wasser
Im Sommer dieses Jahres war die Aufregung groß, als der NDR verkündete, die Tatort-Kommissarin Charlotte Lindholm, gespielt von Maria Furtwängler, bekäme eine neue Ermittlerin zur Seite gestellt: Anaïs Schmitz, gespielt von der Schwarzen Schauspielerin Florence Kasumba. Auch für sie war es ein langer Weg, bis sie sich in der deutschen Traditionsfilmlandschaft über eine Hauptrolle freuen durfte. Zunächst musste sie beweisen, dass auch der internationale Markt an ihr interessiert ist. Sie spielte eine Rolle in der US-amerikanischen Marvel-Produktion Black Panther, die dieses Jahr in die Kinos kam.
„Wenn wir jetzt in einer Kneipe sitzen würden, könnte ich dir den halben Tag erzählen, was ich in Deutschland erlebt habe. Das ist wirklich eine traurige Nummer“, sagte Selam damals im September, als wir uns über Skype unterhielten. Dennoch vermisste Selam Deutschland. Und vor allem vermisste er Berlin. Ein Widerspruch ist das nicht. Als wir uns zwei Monate später, im November, in einem Café in Kreuzberg treffen, merkt man, dass Selam hierher gehört wie ein Fisch ins Wasser. Erst vor wenigen Stunden ist er am Berliner Flughafen Schönefeld gelandet. Es ist ein milder Herbsttag, wir sitzen draußen. Selam ist gekleidet wie jemand, der zu Hause ist: schwarze Cappie, schwarzer Pullover, dunkle Jogginghose aus Stoff und eine knallbunte Trainingsjacke. Vorbeigehende grüßen ihn, Selam plaudert mit dem Café-Besitzer über Trump. Eine ehemalige Nachbarin spaziert vorbei und bleibt stehen, als sie Selam entdeckt: „Ich hatte mich schon gefragt, wo du gerade in der Welt unterwegs bist.“ Am Ende der Straße befindet sich die Schauspielschule, an der Selam seinen Beruf erlernte. Er zeigt mit dem Finger in die Richtung, in der anderen Hand seine Tasse Kaffee und sagt: „Dort habe ich die beste Zeit gehabt. Ich konnte mich in allen Rollen ausprobieren. Da war meine Hautfarbe sowas von egal.“ Es klingt nicht verträumt oder verbittert, sondern so, als hätte er sich damit abgefunden, dass es zumindest in Deutschland nicht mehr so sein wird.
Bald geht Selam zurück nach Hollywood. Doch zuerst spielt er eine Rolle in Deutschland – mit gebrochenem Deutsch
Nun ist Selam erst einmal zurück, aber nicht, um zu bleiben. Obwohl er Los Angeles „superschwierig“ findet, eine „Riesenmaschinerie an Menschen“, will er, wenn es mit dem Visum klappt, spätestens im Februar wieder zurückkehren in das kleine Zimmer, in das die Sonne scheint und 800 US-Dollar im Monat kostet. Anfang nächsten Jahres gehen die nächsten Castings los. In L.A. hat Selam im Schnitt drei Castings pro Monat, die allein sein Agent arrangiert. Hinzu kommen noch einige aus Selbstakquise. Das sind so viele, wie sonst in einem ganzen Jahr in Deutschland.
„Natürlich hätte ich Bock, in Deutschland zu drehen. Das ist meine Heimat“, sagt Selam mit Nachdruck. Einmal hat er am Theater die Rolle des Jago spielen dürfen aus William Shakespeares Stück Othello, der Typus des dämonischen Narren. Das fand er toll. Eine andere Figur, die er gerne darstellen würde, ist die des Grafensohns Franz Moor aus Schillers Die Räuber. Im Moment drehe er außerdem eine Webserie mit einem sehr jungen Team aus Produzent*innen. Es geht um das Thema Religion. Und eine andere Anfrage hat er, die er angenommen hat. Irgendwie muss auch ein Schauspieler seine Miete zahlen. Worum es in der Rolle geht? Salem verrät nur: Er spielt einen Menschen mit gebrochenem Deutsch. Dann lacht er.
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