An Papayas lernen Medizinstudierende in ihrer Freizeit, wie man Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Denn an der Universität bringt ihnen das niemand bei. Wie kann das sein?
Dieser Text stammt aus der neuen Print-Ausgabe von ZEIT Campus. Es geht um junge Deutsche im Silicon Valley, das erste Jahr von Syrern an deutschen Unis und Zoff mit den Eltern. Jetzt am Kiosk, in vielen Mensen oder direkt bei ZEIT ONLINE kaufen.
Als Anja zum ersten Mal einer Mutter ihr frischgeborenes Baby auf die
Brust legte, musste sie aufpassen, dass sie nicht anfängt zu weinen. “Ich finde es so
berührend, wenn auf einmal ein neuer Mensch im Raum ist”, sagt Anja. Sie ist 28, hat
Sommersprossen und weißblondes Haar. Nach ihrem Medizinstudium macht Anja jetzt ihre
Facharztausbildung als Gynäkologin in einer Uni-Klinik. Im Kreißsaal redet sie den werdenden
Müttern gut zu, assistiert den Ärzten, bringt frische Tücher, untersucht die Neugeborenen. Sie
lernt, wie man Babys zur Welt bringt. Aber sie wolle auch etwas anderes lernen, sagt sie: Wie
man eine Schwangerschaft abbricht, wenn eine Frau sich gegen das Kind entscheidet. Eigentlich
ist das ein selbstverständlicher Bestandteil der Gynäkologenausbildung, könnte man denken.
Doch so einfach ist es nicht. Denn Abtreibungen sind immer noch ein hoch umstrittenes Thema.
Und das kriegen auch junge Mediziner zu spüren.
Es ist erst wenige Wochen her, da bezeichnete Papst Franziskus Ärzte, die Abtreibungen durchführen, als “Auftragsmörder”. Manche anderen Menschen vergleichen auf ihren Internetseiten Schwangerschaftsabbrüche sogar mit dem Holocaust. Anja machen solche Anfeindungen Angst. Ihren echten Namen und Arbeitsplatz möchte sie deshalb in diesem Text nicht preisgeben. “Ich will nicht zur Zielscheibe werden”, sagt sie.
Tausende Abtreibungsgegner demonstrieren jedes Jahr in Berlin beim “Marsch für das Leben”. Einige von ihnen verteilen Flugblätter vor Praxen und sprechen Frauen an, die sich auf dem Weg zum Arzt befinden. Doch es gibt eine zweite Entwicklung. Eine, die sich im Verborgenen abspielt: Denn offenbar bieten immer weniger Ärzte in Deutschland überhaupt noch Abtreibungen an.
Rund 101.000 Schwangerschaftsabbrüche wurden 2017 durchgeführt, meldet das Statistische Bundesamt (abschließende Zahlen für das Jahr 2018 gibt es noch nicht). Das sind 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Bundesländer sind gesetzlich dazu verpflichtet, eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Trotzdem ist die Zahl der Arztpraxen und Kliniken, die Abtreibungen durchführen, seit dem Jahr 2003 um rund 40 Prozent gesunken. Das haben Recherchen des ARD-Magazins
Kontraste
ergeben.
Im OP-Plan ihrer Klinik finde sie keine Abtreibungen bei ungewollten Schwangerschaften, sagt Anja. “Solche Standard-Eingriffe machen wir an der Uni-Klinik nicht”, habe ihr ein Assistenzarzt erklärt. Eine Ausnahme sei nur, wenn ohne diesen Eingriff das Leben der Mutter bedroht sei.
“Als ich das hörte, war ich total perplex”, sagt Anja. Denn im Sommer sei der letzte Gynäkologe, der in ihrer Stadt noch Schwangerschaftsabbrüche durchführte, in Rente gegangen. Mitarbeiter von Pro Familia, die Schwangere beraten, bestätigen das auf Anfrage. Sie sprechen von einem medizinischen Versorgungsproblem, das es nicht nur in Anjas Wohnort in Nordrhein-Westfalen gebe, sondern auch anderswo in Deutschland. Zum Beispiel in Niederbayern.
Der Letzte seiner Art
Michael Spandau serviert auf der Terrasse seines Einfamilienhauses am Stadtrand von Passau Espresso in kleinen Glastassen und zündet sich eine Zigarre an. Das Handy legt er vor sich auf den Tisch. “Meine Patientinnen können mich jederzeit anrufen”, sagt er. Eigentlich wollte er längst im Ruhestand sein, mit Frau und Hund endlose Sommer im Campingwagen an Kärntner Seen verbringen. Doch Michael Spandau ist der letzte Gynäkologe in Niederbayern, an den sich schwangere Frauen noch wenden können, wenn sie eine Abtreibung wollen. Und deshalb ist er zwar offiziell in Rente, sitzt aber nicht vor seinem Campingwagen am See, sondern arbeitet weiter.
Gäbe es Michael Spandau nicht, müssten Frauen aus der Region 150 Kilometer bis nach München oder Regensburg zum nächsten Arzt fahren. Auch jetzt bekomme er schon Anrufe aus dem mehr als 200 Kilometer entfernten Augsburg. “Für die Patientinnen ist das eine Zumutung”, sagt Spandau. Seine eigene Praxis habe er vor acht Jahren verkauft. Aufgrund der Versorgungsnot beschloss er jedoch, als Privatarzt weiterzuarbeiten. “Spätestens mit 67 wollte ich wirklich aufhören”, sagt er. Dieses Jahr ist er 70 geworden. Zwar gibt es laut der Landesregierung vier weitere Arztpraxen und Kliniken, die in Niederbayern Abtreibungen durchführen. Doch das Gesundheitsministerium zähle dabei die Ärzte, die eine Zulassung haben – und nicht die, die den Eingriff tatsächlich durchführen, sagt Thoralf Fricke von Pro Familia in Passau. Also landen die Frauen am Ende doch auf dem Untersuchungsstuhl von Michael Spandau. Pro Jahr führe er etwa 300 Abtreibungen durch, sagt er, an manchen Tagen habe er bis zu zehn Operationen.
Michael Spandau begann sein Medizinstudium im Jahr 1968. Damals drohten Frauen und Ärzten Gefängnisstrafen, wenn sie eine Schwangerschaft abbrachen. Spandau erzählt, er habe damals Frauen erlebt, die aus Not versucht hätten, mit heißen Stricknadeln oder Seifenlauge selbst abzutreiben, und die mit schweren Verletzungen im Krankenhaus landeten. “Für mich war klar, dass ich als Gynäkologe den Frauen helfen muss”, sagt er.
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