Vom 14. bis zum 16. Dezember findet in Wien die Weltmeisterschaft der besten Gedächtnissportler statt. Gedächtnissport ist die Meisterschaft im Auswendiglernen großer Datenmengen. Der Münchner Simon Reinhard ist Rekordsieger und organisiert die WM.
ZEIT ONLINE: Herr Reinhard, wie muss man sich den Wettkampf von Gedächtnissportlern vorstellen?
Simon Reinhard: Das Format gleicht dem des Zehnkampfes aus der Leichtathletik. An drei Tagen absolvieren alle Athleten zehn unterschiedliche Disziplinen – drei bis vier pro Tag –, für die es je nach Abschneiden entsprechend Punkte gibt. Wer am Ende die meisten Punkte hat, gewinnt. Wir erwarten etwa 60 Teilnehmer aus aller Welt. Aus Deutschland werden der ehemalige Weltmeister Johannes Mallow sowie Jürgen Peters, Norbert Reulke, Boris Konrad, Frank Grube und Susanne Hippauf dabei sein.
ZEIT ONLINE: Welche Disziplinen sind das?
Reinhard: Die Athleten müssen sich beispielsweise in fünf Minuten so viele Ziffern wie möglich merken. Das Gleiche dann noch mal mit einer Stunde Lernzeit. Außerdem geht es darum, sich fiktive historische Daten, möglichst viele Wörter, Namen und Gesichter, Bilder, gesprochene Zahlen, Binärzahlen oder möglichst viele Spielkartensets einzuprägen. Als krönender Abschluss muss sich jeder Teilnehmer ein gemischtes 52er-Kartenspiel so schnell wie möglich memorieren. Der aktuelle Weltrekord, aufgestellt von Shijir-Erdene Bat-Enkh aus der Mongolei, liegt bei 12,74 Sekunden.
ZEIT ONLINE: Wie sind Sie zum Gedächtnissport gekommen?
Reinhard: Ich habe in München Jura studiert und damals, 2005, für mein erstes Examen gelernt. Mit der bisherigen Strategie – ich lernte etwas, und schon nach kurzer Zeit war ein beachtlicher Teil wieder vergessen – war ich unzufrieden. Ich habe daraufhin nach Lernmethoden und -hilfen gegoogelt und landete auf der Website des ersten deutschen Gedächtnissportvereins: MemoryXL. Dort fand ich natürlich Infos über den Sport und die unterschiedlichen Techniken. Viel wichtiger war mir jedoch die kostenlose Übungssoftware, an der ich mich sofort probierte. Die ersten Level konnte ich auf Anhieb lösen. Als es dann jedoch um längere Zahlenkombinationen ging, kam ich ohne spezielle Techniken nicht weiter und fing an, diese zu lernen. So konnte ich plötzlich Gedächtnisleistungen abrufen, die mir vorher unerreichbar schienen. Das machte schon damals und macht auch heute noch wahnsinnig Spaß.
ZEIT ONLINE: Und wann verwandelte sich das Interesse in sportlichen Ehrgeiz?
Reinhard: Das ging sehr schnell. Einige Monate nachdem ich den Sport entdeckt hatte, fand die Süddeutsche Meisterschaft statt. Dort nahm ich teil, kam sofort mit der sehr netten Athletengemeinschaft in Kontakt und meldete mich im Jahr darauf für die Deutsche Meisterschaft. Ein weiteres Jahr später holte ich bei den Süddeutschen Meisterschaften meinen ersten Turniersieg und besiegte dort sogar den amtierenden Weltmeister Clemens Mayer. Das hat mich natürlich motiviert.
ZEIT ONLINE: So wie Läufer ihre Ausdauer trainieren, so eignen Sie sich Memoriertechniken an. Welche gibt es?
Reinhard: Der Klassiker ist die Loci- oder Routen-Methode. Sie wird in fast allen Disziplinen von den Athleten verwendet und bildet das Fundament, um sich so viele unterschiedliche Ziffern, Karten oder Wörter merken zu können. Dabei schreitet man vor dem geistigen Auge eine Strecke ab, die man in- und auswendig kann, beispielsweise den Weg zur Arbeit. Diese Route ist durch mehrere Routenpunkte gekennzeichnet: die Haustür, das Gartentor, die Bushaltestelle, eine Litfaßsäule und so weiter. Wichtig dabei ist: Die Reihenfolge dieser Routenpunkte bleibt immer unverändert. Nur so kann es funktionieren.
ZEIT ONLINE: Wozu diese Routenpunkte?
Reinhard: Dort werden später die Informationen abgelegt. Das geschieht bildhaft, quasi in kleinen Geschichten. Visuelle Informationen merken sich Menschen viel leichter als abstrakte Informationen. Ich übersetze also eine Zahl in ein Bild. Bei mir steht beispielsweise die 866 für ein Wappen und die 653 für einen Baum. Ich habe für alle dreistelligen Zahlen fest zugeordnete Bilder im Kopf. So kann ich mir in kurzer Zeit kleine Geschichten zurechtlegen, die auf meiner Route passieren, und mich bei der Wiedergabe leichter daran erinnern: ein Hund vor meiner Haustür, ein Baum neben meinem Gartentor oder ein Wappen, das an einer Litfaßsäule klebt.
ZEIT ONLINE: Wie viele dieser Routenpunkte haben Sie sich zugelegt?
Reinhard: Insgesamt verwende ich etwa 2.500 Routenpunkte, die sich auf etwa 30 Routen verteilen. Falls ich für längere Disziplinen – eine Stunde Zahlen merken – mal mehr Punkte benötige, als mir meine längste Strecke gibt, kann ich problemlos auch zwei Strecken miteinander verbinden. Außerdem lassen sich zwei oder drei Informationen auf einem Routenpunkt abspeichern. Ich würde allerdings nicht eine Route mehrmals in einem Wettbewerb verwenden. Dann “kleben” die einzelnen Orte weniger gut – wie ein Stück Tesafilm, das man mehrmals anklebt und abzieht.
ZEIT ONLINE: Tritt man bei den Wettkämpfen eher gegen sich selbst oder die anderen Athleten an?
Reinhard: Ich würde von einer Mischung sprechen. Einerseits fokussiert man sich auf seine Performance. Andererseits kann man bei fast allen Gegnern einschätzen, wie gut sie durchschnittlich in einer Disziplin abschneiden und wie stark man dort selbst ist. Mir liegt beispielsweise das Memorieren von Wörtern deutlich eher als lange Zahlenreihen. So kann man vorher durchaus abschätzen, wie viel Risiko man bei der nächsten Disziplin eingehen sollte oder ob eine sichere Performance ausreicht, um beispielsweise den Vorsprung zu halten.
ZEIT ONLINE: Haben Sie eine bestimmte Strategie, um in besonderen Drucksituationen die Nerven zu behalten?
Reinhard: Sicher hängt es auch davon ab, inwiefern man generell von solchen Situationen beeinflusst wird oder ob sie einem unter Umständen sogar liegen. Ich mag diese Spannung, wenn ein Turnier auf Messers Schneide steht und sich mit einer Zahl, einem Wort oder einem Namen alles ändern kann. Auch wenn wir alle natürlich möglichst gut abschneiden wollen, gönnt jeder auch dem anderen den Sieg.
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