Man muss jetzt von hinten beginnen, so bewegend ist das Ende.
Ihre letzten Worte als Parteivorsitzende der Christlich-Demokratischen Union
Deutschlands lauten: “Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren”, und man denkt,
das endet doch nicht etwa im Sinne von Simone de Beauvoir, oder? Sie schließt
den Gedanken jetzt bitte nicht mit dem Bonmot, dass man nicht als Kanzlerin
geboren, sondern dazu gemacht wird. Ihre Kurve verläuft glücklicherweise doch
anders. Ihr Ziel sei es immer gewesen, das “Amt in Würde zu tragen und es in
Würde zu verlassen”. Und nun empfinde sie Dankbarkeit. Es war ihr eine Ehre, so
sagt sie es ganz zum Schluss: “Es war mir eine Ehre – herzlichen Dank.”
Die Bühne ist so gebaut, dass hinter dem Rednerpult das
gesamte Präsidium wie ein sozialistisches Zentralkomitee über der Sprecherin
und den Delegierten wacht. Während Merkel redet, sitzt Annegret Kramp-Karrenbauer
auf Merkels Platz. Wann immer die Kamera umschwenkt, sieht man sie, also “AKK”,
mit dem Namensschild “Merkel”. Das ist weder Zufall noch Unfall, aber richtig
lustig auch nicht, da im Saal ohnehin keine heitere Stimmung herrscht. Die
ersten Delegierten haben ab der Mitte der Rede angefangen, glasige Augen zu
bekommen. Spätestens jetzt weinen sie
alle. Oder anders gesagt, wer nicht weint, gehört zum hammerharten Kern der
Merkel-Gegner.
Die Kanzlerin jedenfalls hat fertig geredet, und noch bevor
der Applaus einsetzt, geht sie zum CDU-Zentralkomitee, und
Kramp-Karrenbauer rückt rasch zur Seite. Dann Applaus. Riesiger Applaus.
Sie steht noch einmal auf und winkt. Das war’s!
Kramp-Karrenbauer weint. Und klatscht. Sehr energisch, fast
trotzig. Dass sie auch anders klatschen kann, demonstriert sie zwei Stunden
später. Als Jens Spahn seine Bewerbungsrede hält, klatscht sie mechanisch, fast
lasch. Jetzt aber haut sie mit aller Kraft die Handinnenflächen aneinander, als
versuche sie, zwei rohe Schnitzel gar zu klatschen. In ihrem Applaus liegt eine
rührende Verbundenheit zu Angela Merkel, die gerade richtig ehrlich mit den
Tränen kämpft.
Dies ist ein Männerladen
Annegret Kramp-Karrenbauer muss jetzt in sehr kurzer Zeit sehr viel gleichzeitig
managen. Sie reicht der Kanzlerin ein Glas Wasser und muss parallel dazu ihre
eigenen Emotionen in den Griff bekommen. Dies ist ein Männerladen. Was sie
jetzt freimütig an Trauer herausheult, könnte sie hinten raus zu viele Stimmen
kosten. Immerhin bewirbt sie sich gleich als Merkels Nachfolgerin. Außerdem –
und das ist die schwierigste Aufgabe –
muss sie die Kanzlerin alle paar Sekunden ermutigen, doch noch einmal
aufzustehen und eine Runde über die Bühne zu drehen. Denn die alten Männer
unten im Parkett haben nun vollends die Fassung verloren. Es ist ja nun einmal
so, ab einem gewissen Alter ist jeder Abschied, den man betrauert, immer auch
der eigene. Kramp-Karrenbauer besetzt also bereits zu diesem Zeitpunkt mehrere
Spitzenämter. Angela Merkel steht mehrmals auf, geht vor, und hebt die Hände über
den Kopf, mit dieser typischen Geste, die auch bei einer Frau einfach
schrecklich Panne aussieht. Die Hände bilden über dem Kopf eine Faust, und
drücken zu, wie als wolle man eine Walnuss knacken.
Sie hat während ihrer Rede wenig geredet, aber viel gesagt.
In den 18 Jahren zuvor war es immer umgekehrt. Sie hat ihren Text in fünf
Fragen gegliedert. Die Fragen erinnern an Therapiestunden, in denen sich zerrüttete
Paare beim Auseinandergehen coachen lassen, um es einigermaßen gesittet
hinzubekommen; als Alternative zum gegenseitigen Erschießen.
Die Bundeskanzlerin hat vor ihrer Rede über diese Fragen
nachgedacht:
1. Was hat uns
zusammengebracht (“Was hat Sie und mich als CDU Vorsitzende vor über 18 Jahren
zusammengeführt?”)
2. Was verdanken wir
einander?
3. Was haben wir uns
vorenthalten?
4. Warum trennen sich
jetzt unsere Wege?
5. Was wünschen wir
einander?
Sie arbeitet Punkt für Punkt ab. Erst Frage, dann Antwort.
Das Verfahren führt zu überraschenden Momenten. Als sie beispielsweise den
folgenden Satz sagt, von dem man meint, dass er eine Selbstverständlichkeit
sein müsste:
Ich wünsche mir, dass,
wir auch in den schwersten Stunden nie vergessen, was die christdemokratische
Haltung ausmacht: Wir Christdemokraten grenzen uns ab, aber niemals grenzen wir
aus.
Auf diesen Satz folgt ein beispiellos mickriger, ja geradezu
armseliger Applaus, man kann sagen, jämmerlicher hat sich eine Delegiertenversammlung
nie zuvor und nie danach entlarvt. Merkel aber hört nicht auf, sie macht jetzt so
weiter. Mit ganz fester Stimme und unbeeindruckt der spärlichen Zustimmungsrate
zählt sie unerschrocken auf, was Christsozialsein in ihren Augen bedeutet:
Wir streiten, aber
niemals hetzen wir oder machen andere Menschen nieder.
Wir machen keine
Unterschiede bei der Würde der Menschen, wir spielen niemanden gegen den
anderen aus.
Wir verlieren uns
nicht in Selbstbespiegelung, wir dienen den Menschen unseres Landes.
Klingt wie die Präambel einer neuen CDU-Programmatik. In
wenigen Sätzen gibt sie Antworten darauf, was es bedeuten könnte, ein
Konservativer in der Moderne zu sein. Aber das alles ist nicht das Zentrum
ihres Anliegens. Es sind zwei Punkte, die sie anspricht, die lange nachhallen.
Denn sie sind sehr privat.
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