Kann ein Brot ehrlich sein? Ich weiß es nicht. Was ich weiß: Allein die Frage regt mich auf. Dass ich ihr ausgesetzt bin, hier, im Biosupermarkt, an diesem Samstag, wo kurz vor Ende des Wochenendeinkaufs einfach nur noch ein leckeres Brot ausgesucht werden soll.
Aber dann liegt es eben da, zentral positioniert, ganz neu im Sortiment, schon draußen vor dem Laden groß angepriesen: “Das Ehrliche”. Neben Paderborner und Dinkelkruste steht von Hand geschrieben mit roter Farbe und zwei Ausrufungszeichen: “EHRLICH GUT!!” Und man denkt, ja nun, dann ist dieses Brot wohl eben besonders ehrlich und überhaupt, man soll sich nicht so viele unnütze Gedanken machen. Und schon gar nicht über Brote. Es gibt schon genug planetare Ungereimtheiten. Aber ich starre weiter das Brot an. Und merke eine Verrücktheit in mir aufsteigen. In was für einer Welt lebe ich, in der Brot ehrlich ist? Und was heißt das eigentlich im Umkehrschluss? Wenn das hier jetzt “Ehrlich gut!” ist, sind alle anderen Biobrote unehrlich? Oder nicht richtig gut? Belügt mich das Brodowiner? Gehört so eine moralphilosophische Kategorie überhaupt ins Supermarktregal?
Ich glaube schon. Brot gilt als ein, vielleicht sogar DAS Grundnahrungsmittel. “Die Leute haben kein Brot? Wieso essen sie keinen Kuchen?”, soll die junge Königin Marie Antoinette erstaunt gefragt haben. Wenig später lag ihr Köpfchen neben ihrem Körper, von der Guillotine auseinandergeschnitten wie ein Laib Brot. Ob Brot oder kein Brot vorhanden ist, schafft ehrliche und manchmal neue Verhältnisse. Wie Brot charakterisiert wird, sagt auch etwas über die Verhältnisse, in denen der Brotesser oder die Brotesserin leben.
In weiten Teilen Deutschlands gibt es gar kein selbst gemachtes Brot mehr. Besonders auf dem Land, wo vor nicht allzu langer Zeit einmal alles organic war, isst man heute vorwiegend industriell produzierte Nahrung. Bäckereien, die Sauerteigmischungen noch traditionell im eigenen Ofen manufaktieren, sterben aus, während sich in urbanen Enklaven regelmäßig Foodblogger zusammensetzen, um zu testen, welches selbst gebackene Brot das beste der Welt ist. Woran wirklich nichts verkehrt ist. Jeder bemüht sich um das beste Leben. Dazu gehört neben den schönsten Schuhen, dem besten Auto und den besten Freunden am Ende auch das beste Brot.
Wir leben in widersprüchlichen Zeiten, in denen das schönste Kleid nicht nur den ästhetischen Ansprüchen der Mode genügen muss, sondern auch nicht unter Ausbeutungsverhältnissen produziert sein darf. Ein Auto soll schnell sein, aber auch klimafreundlich. Wenn die politische Handlungsmacht des Einzelnen sich neben einem alle vier Jahre zu machenden Kreuzchen am Wahltag vor allem durch Konsumentscheidungen ausdrückt, dann muss das Nahrungsmittel natürlich so ehrlich wie möglich sein. Und wenn der mächtigste Mensch dieser Welt ein notorischer Lügner ist, dann kann das Brot gar nicht ehrlich genug sein. Je mehr alle lügen, desto ehrlicher muss ich essen.
Die Frage der Glaubwürdigkeit, merke ich traurig, kriege ich heute Nachmittag so einfach nicht mehr gelöst. Und stelle mit Blick auf den angeschlagenen Preis die wohl knallhärteste Frage des Tages: Warum ist das ehrlichste Brot auch mit Abstand das teuerste? Obwohl, eigentlich ist die Frage doch sehr banal. Ehrlichkeit hat schließlich seinen Preis. Das weiß jeder. In diesem Fall: 6,59 Euro.
Während die anderen angebotenen Konkurrenzbrote bei vier Euro und ein paar Zerquetschten hängen bleiben, kostet das Ehrliche also, irgendwo natürlich nicht, aber irgendwie dann ja doch, umgerechnet 14 D-Mark. Vierzehn. Ein Roggenbrot. Und dann gleitet man eben schon wieder ins Ethische. Denn ich muss ehrlich sagen, meine Mutter, die bis heute jeden Wochenanfang die Angebotsblättchen von Discountern durchliest und mit diesem Wissen im Kopf gezielt einkaufen geht, die findet das, auch wenn sie es anders nennen würde: spätrömische Dekadenz. Dass ein Brot in einem Biosupermarkt in Berlin so viel Geld kostet. Darf das sein? Darf das so viel kosten, wenn so viele Menschen Hunger leiden? Kurzes Überlegen: Ja, doch, der Kapitalismus erlaubt das grundsätzlich. Darf also ich dafür so viel Geld ausgeben? Schwierig. All diese Fragen hat sich die Bio Company in Berlin-Mitte nun in den Laden geholt. Und ich komme zu spät nach Hause. Weil ich zu lange nach Antworten suche. Und nun bin ich endlich auch mal dran, das Ehrliche im Einkaufskorb.
“Warum ist das ehrliche Brot so teuer?”, frage ich an der Kasse.
Weiß der Kassierer nicht, schüttelt den Kopf. Fragt Kollegin.
Kollegin schaut irre lieb und wie die, die immer auf alles eine Antwort hat und es einem ganz langsam und deutlich erklärt, heute aber zugeben muss:
“Weiß ich eigentlich auch nicht.”
Das “ehrliche” Brot ist nur ein bisschen größer, aber genauso zusammengesetzt und genauso gebacken und sieht für Otto Normal auch genauso aus wie jedes andere Märkische Landbrot hier. Wir wissen es eben alle miteinander nicht. Und vielleicht ist ja doch was Magisches dran. Am Brot. Im Brot. In dieser ganzen verdammten Kiste.
Du bist dumm wie Brot, sagte man in meiner Jugend, wenn einer schwer von Begriff war. Nun wieder vor dem Bioladen stehend, im Internet surfend, wird klar, wie niemand dort eine Erklärung dafür findet, wie es zu dieser Redewendung kam. Der Literaturwissenschaftler und Brotphilosoph Daniele Dell’Agli erinnert aber noch einmal daran: Jesus hat für uns das Brot gebrochen und im Sakrament des Abendmahls Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt. Und dieses Ritual gelte immerhin bis heute als das populärste Mysterium des Christentums.
Am Abendbrottisch sitzt die Patchworkfamilie und beschmiert das Ehrliche mit Butter. Das machen die Menschen, die Glück haben, nun schon ganz schön lange so. Wir falten nicht die Hände und beten weder vorher noch nachher zu Gott. Aber ich weiß plötzlich: Im Katholizismus und im Kapitalismus kann Brot dumm sein, es kann ehrlich ‚gemacht’ werden und auch alles andere darstellen. Dieser geniale Jesus hat es geschafft, dass ganz schön viele Leute bis heute eine kleine, runde, nach nichts schmeckende Hostie in den Mund stecken und dabei tendenziell glauben, dass sei der Körper von Jesus selbst. Das vor mir liegende komplett überteuerte irgendwie ehrliche Landbrot mit dem kräftigen braunen Rand kommt mir plötzlich ganz, ganz klein und schwach vor.
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