Was ist ein Klimaziel wert? Manchmal nicht einmal das
Papier, auf dem es geschrieben steht, lautet die deprimierende Antwort. Bundeskanzlerin
Angela Merkel muss das wissen, denn unter ihrer Regierung wird Deutschland das
selbst auferlegte Emissionsziel für das kommende Jahr – 40 Prozent
weniger Treibhausgasausstoß als im Jahr 1990 – deutlich verfehlen. Die
Bundesregierung gibt ihr Versagen in diesem Punkt mittlerweile offen zu.
Es wäre dennoch ein wichtiges politisches Signal gewesen, wenn sich
die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in der vergangenen Nacht
auf ein neues Klimaziel geeinigt hätten: Europa bis 2050 treibhausgasneutral zu
machen. Das hätte nicht bedeutet, dass die Fabriken, Heizungen oder Autos in
Europa zu diesem Zeitpunkt keine Emissionen mehr ausstoßen dürfen. Aber die
Emissionen – sämtlicher Treibhausgase, nicht nur von CO2 – hätten anderweitig eingespart
werden müssen, damit am Ende die Bilanz auf null steht.
Das Jahr
2050 markiert ein entscheidendes Datum. Der Weltklimarat IPCC kommt in
einem Sonderbericht
zu dem Schluss, dass 2050 die gesamte Welt klimaneutral sein müsste, um die
Erderwärmung mit einer 50-prozentigen Chance noch bei 1,5 Grad gegenüber
vorindustriellen Zeiten zu stoppen. Das haben sich die Unterzeichnerstaaten des
Klimaabkommens von Paris versprochen – noch so ein ehrgeiziges Ziel.
Nimmt man es ernst, bedeutet es: Für den Umbau der globalen Wirtschaft zu einer, die
ohne fossile Brennstoffe funktioniert, bleibt nur noch wenig Zeit.
Ein bisschen mehr Druck
Doch
seit Paris sind bereits vier Jahre vergangen, und getan
haben die Regierungen zu wenig. Zugleich mehren sich die Anzeichen, dass
die Erderwärmung deutlich schneller voranschreitet als gedacht. Zum Beispiel in
der Arktis, wo der Permafrostboden derzeit in einem Ausmaß taut, wie
Wissenschaftler es erst für das Jahr 2090 erwartet hatten. Die Zeit drängt
also. Auf dem EU-Gipfel legten aber am Ende drei
der 27 EU-Mitgliedsstaaten ein Veto ein, und die Treibhausgasneutralität
verschwand in einer Fußnote der
Abschlusserklärung. “For a large majority of
Member States, climate neutrality must be achieved by 2050“, steht da nun.
Für
Menschen, die sich näher mit den diplomatischen Prozessen innerhalb der EU befassen,
mag das trotzdem ein Fortschritt sein. Noch vor ein paar Monaten unterstützten nur
wenige Mitglieder das neue Ziel; Deutschland
selbst kam erst vor wenigen Tagen hinzu. Sonst dauert es in Brüssel oft
deutlich länger, Mehrheiten aufzubauen. Verpasst wurde nun die Chance, mehr Druck auf alle EU-Regierungen ausüben zu können: Hätte
die EU ihr Klimaziel für 2050 verschärft, hätte das Folgen für zeitlich näher
liegende Ziele gehabt. Auch das 2030er-Ziel beispielsweise hätte ehrgeiziger
formuliert werden müssen.
Deutschland lahmt
Doch
die Ziele sind eben nur das eine. Was fehlt, ist der politische Wille, aus ihnen praktische
Politik zu machen – auch und gerade in Deutschland, das sich einst als führend
im Klima- und Umweltschutz verstand. CO2-Bepreisung, Kohleausstieg,
Verkehrswende, Gebäudesanierung: Überall geht es viel zu langsam voran. Ihre Klimaziele aber, die für die Zeit nach 2020, bekräftigt
die Regierung immer wieder, zum Beispiel im Klimakabinett, das Ende Mai tagte,
und zuletzt auch im Koalitionsausschuss.
Man könnte das als bewusste Täuschung der Wählerinnen und Wähler auffassen. Ziele klingen ambitioniert, auch daher werden sie oft ausgesprochen. Aber sie umzusetzen, stellt Politiker in Demokratien aber vor ein existenzielles Dilemma: Wie sollen Regierungen den Abschied von fossilen Energieträgern ehrgeizig vorantreiben, wenn sie dafür riskieren müssen, nicht mehr wiedergewählt zu werden – und zwar nicht nur wegen der Arbeitsplätze in überkommenen Branchen, sondern vor allem, weil eine kohlenstoffarme Lebensweise auch Verzicht bedeuten würde?
Auf internationalen
Gipfeltreffen zeigt sich die Bundeskanzlerin daher klimapolitisch ambitioniert. Meist belässt sie aber bei der Rhetorik. In Brüssel sagte sie jetzt: Dass eine große Mehrheit der
Mitgliedsstaaten sich für das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050
entschieden habe, sei eine “gute
Ausgangsposition, um Vorreiter beim internationalen Klimaschutz zu sein”.
Kohleausstieg, Klimaschutzgesetz
Es liegt an ihr, zu zeigen, wie ernst sie das meint. Etwa, indem sie mit ihrer Regierung einen klaren, detaillierten Plan vorlegt, wie
Deutschland zu Hause bis 2050 Treibhausgasgasneutralität erreichen will. Um das zu tun, braucht die Bundeskanzlerin gar keinen einstimmigen EU-Beschluss. Das
Klimaschutzgesetz, wie Umweltministerin Svenja Schulze es will, könnte ein
wichtiger Bestandteil eines solchen Plans sein. Doch
Schulze wurde, als sie nach der Europawahl vorpreschte, vom Kanzleramt ausgebremst.
Merkel
könnte auch die Verkehrswende entschlossener vorantreiben, die Einführung eines
CO2-Preises, den Kohleausstieg. Womöglich könnte letzteres einem Land wie
Polen, das immer noch sehr von der Kohle abhängt und deshalb gegen die
Treibhausgasneutralität der EU stimmte, sogar Ideen für die eigene Entwöhnung
geben. Doch bislang gibt es keine Anzeichen, dass die Kanzlerin das
plant, im Gegenteil: Am vergangenen Wochenende vertagte der
Koalitionsausschuss das Thema Klimaschutz erneut, diesmal auf Mitte September.
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