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Indien: Tödlicher Sand

Kurz
bevor Jagendra Singh starb, ließ er ein Video von sich aufnehmen. Seine Augen konnte er kaum noch
öffnen, sein Körper war zu 50 Prozent verbrannt. “Die Arschlöcher haben Benzin über mich
gegossen”, sagte
er. Sein Gesicht verzog er vor Schmerz. Die Angreifer seien über eine Mauer geklettert
und in sein Haus eingedrungen. Unter ihnen seien auch Polizisten gewesen. “Sie
hätten mich verhaften können”, ächzte Singh, “warum mussten sie mich umbringen?”

Am
8. Juni 2015 starb Jagendra Singh im Krankenhaus von Shahjahanpur, einer Stadt im
Norden von Indien. Er wurde 46 Jahre alt. Das Video war sein letzter Schlag gegen Korruption
und Umweltzerstörung. Singh war Journalist und recherchierte zu Umweltthemen,
vor allem zum illegalen Abbau von Sand in den Flüssen des Bundesstaats Uttar
Pradesh. Genau wie Sandeep Kothari, erwürgt und verbrannt am 19. Juni 2015, wie
Karun Misra, erschossen am 13. Februar 2016, und wie Sandeep Sharma, mutmaßlich
absichtlich überfahren
von einem Lastwagen am 26. März 2018. Der illegale Abbau von Sand ist ein
lukratives Geschäft in Indien, einem wachsenden Land, das als größte Demokratie
der Welt gilt, und in dem doch regelmäßig Journalisten verschwinden,
angegriffen werden oder getötet.

Das
internationale Komitee zum Schutz von
Journalisten (CPJ) geht von weltweit
mindestens 13 Reportern aus, die seit 2009 getötet wurden, nachdem sie zu
Umweltthemen recherchiert hatten. 16 weitere Fälle werden noch untersucht.
Bereits 2015 berichtete Reporter ohne Grenzen: man verzeichne eine “stetige
Verschlechterung der Situation für Umweltreporter”. Forbidden Stories, ein internationales
Konsortium
von Journalisten, dem auch die ZEIT angehört, hat sich daher entschieden, die Geschichten und Recherchen von Umweltreportern
weiterzuführen, die Bedrohungen und Gewalt ausgesetzt sind. 40
Journalisten aus 15
Ländern schlossen sich dafür zum Green
Blood Projekt zusammen, aus Deutschland sind neben der ZEIT, auch der WDR
und die Süddeutsche Zeitung beteiligt. Einige berichten über die Nickelminen
in Guatemala, andere über Goldminen in Tansania. Die ZEIT erzählt die
Geschichte von Reportern aus Indien, die über Sandminen berichten. Und dabei
ihr Leben riskieren, oder es bereits verloren haben. 

Fast
vier Autostunden sind es von Lucknow, der Hauptstadt des Bundesstaats Uttar
Pradesh, bis nach Shahjahanpur. Im vergangenen Dezember machen sich französische
Reporter des Forbidden-Stories-Netzwerks auf den Weg in die Heimat von Jagendra
Singh. Die engen Gassen der Stadt sind voll mit Fahrrädern und Straßenhändlern,
überall Autohupen, überall Gewimmel. Etwas abseits der Hauptstraße liegt ein
Platz, umgeben von kleinen Häusern. Hinter einer grünen Mauer mit blauen
Eisentüren steht das Haus von Jagendra Singh.

Bilder des getöteten Reporters Jagendra Singh in seiner Wohnung
© Forbidden-Stories-Netzwerk

Am
1. Juni 2015, dem Tag des Angriffs, erwartete Singh hier Besuch von einem Mann, der ihn am Abend zuvor
um ein Treffen gebeten hatte. In den vorangegangenen Wochen hatte Singh über die
mutmaßliche Beteiligung des Lokalpolitikers und Ministers Ramamurthy Singh Verma, eines
Verwandten dieses Mannes, am illegalen Sandabbau geschrieben. Am frühen Nachmittag des 1. Juni
erschienen jedoch plötzlich Polizisten vor dem Haus des Journalisten. Mehrere
Beamte seien gekommen, berichteten Zeugen, auch Anhänger des Politikers
Verma seien dabei gewesen. Kurz darauf nahm Singh sein Video auf. Und starb.

“Ich habe ihm gesagt, er soll solche Geschichten nicht schreiben”

Singhs
Familie sagt, er sei von den Männern angegriffen und in Brand gesteckt
worden. Die Polizei ermittelte und kam zu dem Schluss, dass der Journalist sich
selbst angezündet habe. Die einzige Augenzeugin des Vorfalls, eine Freundin von
Singh, die mit ihm im Haus war, änderte ihre Version der Geschehnisse mehrmals.

“Von
dem Moment an, als er gegen den Minister [Verma] schrieb, war er in
Schwierigkeiten”, sagt Jagendra Singhs Witwe im Dezember
den Reportern
von Forbidden Stories, fast vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Sie sitzt in ihrem
Haus
hinter der grünen Mauer, in einem Raum, der halb Wohnzimmer ist und
halb Bad.
“Ich habe ihm gesagt, er soll solche Geschichten nicht schreiben”, sagt sie. Seit 1999 war Singh Journalist. Immer wieder wechselte er in dieser Zeit
den Arbeitgeber, weil er sich zensiert fühlte. Manchmal seien seine Chefs gebeten
worden, eine Geschichte fallen zu lassen und hätten Geld dafür bekommen,
erzählt sein erwachsener Sohn Rahul: “Dann wurde mein Vater wütend.” Singh suchte nach
anderen Möglichkeiten, seine Recherchen zu verbreiten.

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