Seit wir ständig online sind, bleibt nichts mehr geheim. Der digitale Fußabdruck des Durchschnittsbürgers wird mittlerweile auf ein halbes Gigabyte täglich geschätzt. Elizabeth Bruch, 42, gehört zu einer neuen Generation von Forschern, die unser Verhalten anhand solch riesiger Datensätze untersuchen. Sie studierte Soziologie in Los Angeles und ist heute Professorin in diesem Fach an der University of Michigan. Seit einem Jahrzehnt befasst sie sich mit der Frage, was das Internet über die Liebe verrät und wie Big Data und Algorithmen unser Leben verändern. Derzeit schreibt sie an einem Buch über die Strategien der Partnerwahl, wofür sie sich an das Berliner Wissenschaftskolleg zurückgezogen hat. Wir trafen uns dort in der mit dunklem Walnussholz vertäfelten Bibliothek.
ZEITmagazin: Frau Bruch, Sie erforschen Online-Dating. Haben Sie sich selbst im Netz um einen
Partner bemüht?
Elizabeth Bruch: Meine Schwester hat mich in die Singlebörsen eingeführt. Das war an einem Wochenende im Jahr 2002, als ich in Los Angeles lebte. Damals galt Online-Dating noch als exotisch.
ZEITmagazin: Heute benutzt jeder dritte Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren diese
Portale.
Bruch: Es ist völlig normal geworden, seinen Partner online zu finden. Meine Schwester und ich langweilten uns und vertrieben uns die Zeit damit, auf dem Bildschirm nach Männern zu sehen. Tatsächlich fand ich einen, der mich interessierte. Er war angehender Filmemacher und wohnte in einem Stadtteil, der ganz anders war als meiner. Also schrieb ich erst ein Persönlichkeitsprofil und schickte ihm dann eine Nachricht.
ZEITmagazin: Und?
Bruch: Wir waren zwei Jahre zusammen. Aber meine Herangehensweise war untypisch.
ZEITmagazin: Weil Sie Ihr Auge nur auf einen Mann geworfen hatten?
Bruch: Genau. Die meisten Menschen gehen auf Datingseiten, um mit möglichst vielen Kandidaten Kontakt aufzunehmen.
ZEITmagazin: Im Wettbewerb mit Tausenden anderen Frauen mussten Sie seine Aufmerksamkeit
erregen.
Bruch: Keine Ahnung, wie mir das gelang. Ich wusste viel zu wenig über ihn, um mir eine bestimmte Story ausdenken zu können. Das ist ja das Problem: Die Ratgeberbücher sind voller Tipps, wie man angeblich unwiderstehliche Profile schreibt. Ein Portal behauptet, Reizwörter wie “einfühlsam” und “zärtlich” steigerten die Chance auf eine Antwort. Aber all diese vermeintlich todsicheren Strategien beruhen auf schwacher Evidenz. In Wirklichkeit handeln die Menschen, ohne zu wissen, ob sich das, was sie tun, lohnen wird. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass Frauen auf Datingportalen umso längere Nachrichten absetzen, je begehrter ihnen ein Mann erscheint.
ZEITmagazin: Das ist verständlich: Sie hoffen, dass sie ihn eher für sich interessieren können,
wenn sie mehr über sich selbst sagen.
Bruch: Aber sie täuschen sich. Ob und wie die Männer antworten, hängt gar nicht davon ab, wie viele Worte sie macht. Die Frauen verschwenden ihre Zeit. Die Männer machen das übrigens geschickter. Traurigerweise haben sie Erfolg, wenn sie auf cool spielen. Einer attraktiven Frau Komplimente zu machen nützt überhaupt nichts.
ZEITmagazin: Was ist eine attraktive Person?
Bruch: Wir bestimmen Attraktivität abhängig vom Verhalten der Benutzer: Wir werten aus, wer von wem Nachrichten bekommt. Ein Empfänger ist umso attraktiver, je mehr Nachrichten er bekommt und je attraktiver die Absender sind. Der beliebtesten Person in unserem Datensatz, einer 30-jährigen New Yorkerin, machte jede halbe Stunde jemand den Hof. Die meisten Partnersuchenden dagegen erhielten nur ein oder zwei Anfragen im Monat. Weil der Datensatz anonymisiert war, wissen wir nicht, was genau diese Person so heraushebt.
ZEITmagazin: Ihr Datensatz – was heißt das?
Bruch: Das Geschehen auf einer großen amerikanischen Online-Partnerschaftsbörse während eines ganzen Monats, im Januar 2014. Vier Millionen aktive Benutzer.
ZEITmagazin: Woher haben Sie die Daten?
Bruch: Wir haben sie von dem Unternehmen erhalten. Alle Informationen sind natürlich anonymisiert. Wir haben besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen, sodass nur ausgewiesene Wissenschaftler auf sie zugreifen können.
ZEITmagazin: Aber offenbar kennen Sie Alter, Geschlecht, Hautfarbe und Ausbildung all dieser
Menschen und die Städte, in denen sie wohnen. Und Sie wissen, wann wer wem was schrieb. Sie
können einzelne Kontaktanfragen ermitteln – und verfolgen, wenn jemand einen Korb bekam.
Dürfen Außenstehende solche Intimitäten erfahren?
Bruch: Nein. Die Daten sind ja nicht öffentlich zugänglich. Und Wissenschaftler, die mit solchen Daten arbeiten, müssen sich ihr Vorhaben von einem Ethikkomitee ihrer Universität genehmigen lassen. Das stellt eine weitere Sicherheitsebene dar.
ZEITmagazin: Trotzdem: Hätte ich damals auf dieser Datingseite gepostet, würde ich mich jetzt
ungefähr so fühlen, als hätte jemand hinter meinem Rücken in die Tagebücher meiner Jugend
geschaut.
Bruch: Wir sind noch in einer frühen Phase. Wir beginnen eben erst herauszufinden, wie wir solche Daten verantwortungsvoll so nutzen können, dass die Betroffenen geschützt werden.
ZEITmagazin: Finden Sie solche Antworten befriedigend? So ähnlich versuchte sich auch Mark Zuckerberg zu verteidigen, wenn Facebook wieder einmal Missbrauch der Daten seiner Benutzer
vorgeworfen wurde.
Bruch: Als Forscherin bin ich dem amerikanischen Forschungsgesetz von 1974 verpflichtet, das genaue Richtlinien festlegt, nach denen wir Daten so sammeln können, dass die Betroffenen respektvoll behandelt werden und einen Nutzen davon haben. Nach ähnlichen Prinzipien können wir auch im Internet vorgehen. Wir brauchen Partnerschaften von Unternehmen, Wissenschaftlern und der Regierung.
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