Wolfgang Merkel ist Direktor der Forschungsabteilung Demokratie und
Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
(WZB) und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität
zu Berlin.
Kapitalismus
und Demokratie sind heute höher entwickelt denn je. Gleichzeitig sind sie
fragiler und verwundbarer geworden. Die Balance zwischen Politik und Ökonomie
ist aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Rückblick auf die Entwicklung und drei Thesen sollen verdeutlichen, wie es dazu kam.
Als
1989 die diktatorischen Regime des Sowjetkommunismus
zu kippen begannen, schrieb ein noch unbekannter Angestellter des State
Departments der Vereinigten Staaten von Amerika einen Essay, der vom Ende der
Geschichte kündete. In einer Klitterung der Hegelschen Geschichtsphilosophie
prognostizierte Francis Fukuyama den endgültigen Siegeszug des wirtschaftlichen
und politischen Liberalismus. Mit der finalen Durchsetzung von Marktwirtschaft
und Demokratie sei die Geschichte in ihrem höchsten Stadium an- und damit zu
sich gekommen, behauptete Fukuyama.
Drei Dekaden später wissen wir, dass sich der Kapitalismus
zwar in unterschiedlichen Varianten global ausgebreitet hat, die Demokratie aber
seit 15 Jahren weltweit stagniert, wenn nicht regrediert.
Als nationale, politische Steuerung noch möglich war
Wenn
es je ein goldenes Zeitalter der Koexistenz und Symmetrie von Kapitalismus und
Demokratie gegeben hat, dann war es die Phase von 1950 bis in die Mitte der Siebzigerjahre. Der Kapitalismus, in Deutschland sprach man von der sozialen
Marktwirtschaft, war gezähmt durch politisch gewollte Marktregulierungen und
einen interventionistisch-keynesianischen Wohlfahrtsstaat. Dies galt für Nord-
und Westeuropa mehr als für die USA. Aber selbst dort hatten sich Formen der neoklassisch-keynesianischen
Synthese (Joan Robinson prägte den Begriff des Bastardkeynesianismus) etabliert. Kombiniert mit dem
sozialpolitischen Reformprogramm namens Great Society des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson wurde
der Kapitalismus auch in den USA sozialen und politischen Verpflichtungen
unterworfen.
Diese
Entscheidungen waren politisch, sie waren demokratiegetrieben, nicht marktgetrieben.
Die Nachkriegsperiode war geprägt vom Ausbau des Sozialstaats, von Regulierungen
auf dem Arbeits- und Finanzmarkt. In der Folge verringerte sich die
Ungleichheit der Einkommen. Die Volkswirtschaft war in mancher Hinsicht noch eine
Nationalökonomie, die politischer Steuerung zugänglich war – und nicht den
raschen Abfluss von Investitionskapital fürchten musste. Die Ära des national
koordinierten Nachkriegskapitalismus ging dann in den Währungsturbulenzen zu
Beginn der Siebzigerjahre, der Ölpreiskrise und der nachfolgenden Stagflation
zu Ende.
Aus dem demokratischen Zugriff entlassen
Die
goldene Ära des Kapitalismus begann mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan Anfang der Achtzigerjahre. Mit ihrer Politik begann die neoliberale
Globalisierung. In den folgenden vier Jahrzehnten hat der Kapitalismus dann eine
doppelte Entgrenzung erfahren: Er wurde wahrlich global. Und er wurde aufgrund politischer
Entscheidungen von den sozialen und politischen Zumutungen befreit – durch Deregulierung
und Entstaatlichung.
Dies führte zu dem Paradox, dass die
Demokratie mit demokratisch getroffenen Entscheidungen die Ökonomie weitgehend aus
ihrem zukünftigen demokratischen Zugriff entließ. Das gilt zumindest für die
westlichen Marktwirtschaften. Anders gelagert war der autoritäre Bastardkapitalismus
Chinas und Vietnams, der protoliberales Manchestertum mit etatistisch-merkantilistischer
Außenwirtschaftskontrolle verbindet.
Im
Westen vollzog sich der Übergang vom gesteuerten Industriekapitalismus zu einer
neuen Form des Finanzkapitalismus, der in der Debatte häufig als Finanzialisierung bezeichnet wird. Der grenzüberschreitende Kapitalverkehr
schwoll gewaltig an und ein großer Teil davon diente nicht der Investition
in produktive Zwecke, sondern wurde für Finanzspekulationen verwendet. Es
entstanden große Profite, denen häufig keine Wertschöpfung mehr entgegenstand.
Der Shareholder Value avancierte zum
alleinigen Maßstab.
“Das Finanzkapital ist auf den Fahrersitz gesetzt worden”,
zitiert der Historiker Jürgen Kocka George Soros, der zeitweise selbst ein
bedeutender Akteur im Kasinokapitalismus war.
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