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Fußpflege: Schnipp Schnapp Schnupp, Neukunde

Dieser Artikel ist erschienen auf unserer Schriftstellerplattform “Freitext”. Dort schreibt Katja Oskamp ihre Kolumne “Fußpflege in Marzahn”.

Das Berliner
Hausnummern-Chaos macht vor Marzahn nicht halt. Die Straßen verzweigen sich
hier mehrarmig in die Wohngebiete. Die Straße, in der unser Studio ist, verläuft
zweigleisig, einmal hinter den Punkthochhäusern, einmal davor. Sie erstreckt
sich über anderthalb Kilometer, hat aber trotzdem nur fünfundfünfzig
Hausnummern, denn sie wird oft von Plätzen und Grünflächen unterbrochen. Nicht
selten irren Ortsunkundige verzweifelt über die Wiese vor dem Studio und suchen
das Ärztehaus in der Nummer 30. Wir sind die Nummer 32 und vom Ärztehaus etwa
zwei Gehminuten entfernt. Um dorthin zu gelangen, muss man sich zwischen zwei
Halbkreisen entscheiden, die alles Mögliche streifen, nur nicht die Nummer 31.
Vereinfacht gesprochen.  

Zehn nach zwei klopft es
dringlich an die Tür des Studios. Ich öffne und lasse einen kleinen, dicken,
aufgeregten Mann ein – Brille, Kahlkopf, Stoffbeutel, bunt kariertes Hemd. Beinahe
hätte er “dit Ding hier nich jefunden”, schimpft er, hat die Hausnummer gesucht,
ist in die falsche Richtung gelaufen und deshalb nun zu spät.

Mein Neukunde ist kein Ortsunkundiger. Er wohnt,
wie er mir bei der Terminvereinbarung am Telefon sagte, seit zwanzig Jahren in
unmittelbarer Nachbarschaft. Den Termin haben wir schon vor acht Wochen
ausgemacht. Damals sagte er, als ich nach Rückrufnummer und Namen fragte: “Dit
is der Erwin. Der Erwin Fritzsche.” Er fragte mich ungefähr siebenmal: “Und dit
mit die Füße, dit könnse wirklich, ja?” Sein Misstrauen amüsierte mich, aber
ich rechnete damit, dass mein Neukunde nicht erscheinen würde. Womöglich hatte
er längst eine andere Fußpflegerin gefunden oder es ganz bleiben lassen.

Nun sitzt er vor mir mit
hochgekrempelten Hosenbeinen, die Füße im Wasser. Verhaspelt sich beim
Sprechen, kommt zu Atem und beruhigt sich, weil ich ihm versichere, dass wir genügend
Zeit haben und – abgesehen von der kleinen Suchaktion – doch alles bestens
geklappt hat mit uns beiden. Sogar das vor acht Wochen von mir erwähnte
Handtuch hat er dabei, was mich erstaunt. Erwin Fritzsche bekommt ein Lob
dafür.

Ich trockne seine Füße
ab, die sich fest und ein bisschen knubbelig anfühlen; Kartoffelfüße nenne ich
diese Sorte. Als obligatorische Entschuldigung für ihren Zustand erzählt er:
“Sone Podo-dingsbums hat ma de großen Zehen vasaut, alle beede, janz vaeitert
warnse. Ick konnt kaum noch loofen. Die mussten uffjeschnitten werden!” 

Jetzt verstehe ich sein
Misstrauen am Telefon. Er hatte Angst vor erneuter Verschandelung. Als ich den
Thron in die Höhe fahre, die Füße unter der Lupenlampe betrachte, sehe ich zwei
saubere, sehr schön verheilte Schnitte an den Innenfalzen der Großzehen. 

“Wann hat die Podologin
das versaut?”, frage ich.

“Vor vier Wochen”, sagt
Erwin Fritzsche.

Das kann unmöglich stimmen.

Ich sehe außerdem, dass
die Zehennägel geschnitten wurden, nicht schön, aber funktional, mit – schnipp schnapp
schnupp – je drei Kanten versehen. Vor zwei bis drei Wochen, schätze ich und
will wissen, ob er die Nägel selbst gekürzt hat.

“Nee, ick komm da nich
ran. Dit war meene Bekannte, die hilft ma.”

Die Bekannte bemühe sich
sehr um ihn. Er habe aber Skrupel, ihre Hilfe anzunehmen, weil “die is
achtundvierzig, ick bin dreiundsiebzig. Dit jeht irjendwie nich”. Klar, er habe
schon immer Frauen gekannt, die ihm geholfen hätten, meistens jüngere. Mit
denen sei er sein ganzes Leben gut hingekommen, während er mit den älteren
(also gleichaltrigen) nie warm geworden sei. Zum Beispiel bei der Reha, da hat
“sone alte Sozialtante” andauernd an seine Zimmertür geklopft, “die wollte ma
imma zum Kartenspielen abholen”. Aber Erwin Fritzsche wollte nicht mit alten
Leuten Karten spielen, Erwin Fritzsche wollte lieber mit der jungen
Physiotherapeutin flirten.

“Was für eine Reha?”,
frage ich.

“Ick hatte doch …”, sagt
Erwin Fritzsche und stockt. Ich sehe von den Zehen auf und in sein Gesicht. Die
Brillengläser vergrößern seine Augen.

“… n Herzinfarkt hatt ick
doch, und n Schlachanfall hatt ick ooch.”

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