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Europa: Zum Glück chaotisch!

Googelt man “Tod Europas”, antwortet der Suchalgorithmus aus Kalifornien
mit fast zehn Millionen Einträgen. Öfter wurde wohl keiner Region ihr Ende bescheinigt, bekam
kein Erdteil seinen Abgesang zu hören oder wurde in die Bedeutungslosigkeit entlassen. Die
Europäer selbst neigen zur Endzeitstimmung – vom 1918 erschienenen Buch
Untergang des
Abendlandes

des Historikers Oswald Spengler
bis zur Neue-Deutsche-Welle-Band Geier Sturzflug und ihrem Lied
Besuchen Sie Europa (solange es noch steht)
von 1983.

Ausländer sind nicht minder skeptisch. Im Jahr 1989 ließ der japanische Management-Guru Ohmae Kenichi die Alte Welt in einem Aufsatz wissen:
“Europe doesn’t matter”.
Die Gemeinschaft der Europäer spiele keine Rolle mehr im weltweiten Wettbewerb, sollte das heißen. Später wurde der singapurische Politikforscher und Diplomat Kishore Mahbubani berühmt mit Angriffen auf den Westen. Wenn die arroganten Europäer nicht aufpassten, so drohte er, würden sie im neuen asiatischen Jahrhundert untergehen.

Als die Mitgliedsländer des Euro dann 2010 in die Staatsschuldenkrise stolperten, kühlten vor allem amerikanische Ökonomen ihr Mütchen an Europa. Der Harvard-Professor Kenneth Rogoff erklärte es zum
“ground zero”,
also zur Zone der Verwüstung, und erwartete viele Staatsbankrotte. Sein Princeton-Kollege Paul Krugman warf den Europäern wirtschaftlichen Selbstmord vor und sah sie “am Abgrund”.

Nicht dass der Rest der Welt so stabil wäre. Als Ohmae Kenichi Europa abschrieb, begann Japans Abstieg. Asien durchlitt mehrere Wirtschaftskrisen, selbst das von Mahbubani hochgelobte China wächst heute nicht mehr, wie es will. In den Vereinigten Staaten gefährdet Donald Trump die freiheitliche Ordnung und damit auch den Wohlstand. Bei China redet man vielleicht von Aufstieg, bei Amerika von Abstieg. Doch es ist Europa, dieser Hybride aus Staatenbund und Bundesstaat, dessen Überleben infrage gestellt wird. So auch jetzt, da eine Rezession droht: Was, wenn Italien zu viel Schulden aufnimmt? Wenn es darüber Streit in Brüssel gibt? Wenn südliche Banken stürzen? Ob Europa das überlebt. So wird es von Berlin bis New York geraunt.

Das nagt am Selbstvertrauen. Die Welt versteht Europa kaum, und die Europäer verstehen ihre Region selbst oft nicht. Sie erschrecken, wenn sich nichts weiterentwickelt – und beschwören dann das Bild vom Fahrrad, das umfällt, wenn es nicht fährt. Aber sie sorgen sich auch, wenn etwas Gemeinsames auf die Beine gestellt wird wie der mit gut 700 Milliarden Euro versehene Europäische Rettungsschirm oder die Bankenunion, in der die großen Geldhäuser gemeinschaftlich kontrolliert werden.

Es ist höchste Zeit, sich der europäischen Stärken zu erinnern. Und dabei zuallererst der Europa eigenen Unordnung und Kleinteiligkeit. Chaos ist Alltag, die Nationen arbeiten sich nebeneinander an ähnlichen Problemen ab, und irgendwie klagt jeder über jeden. Doch genau in dieser Vielfalt steckt die Kraft Europas.

Die EU vereint 513 Millionen Menschen. Von den Bürgern im erwerbsfähigen Alter gehen immerhin 73 Prozent einer Arbeit nach. Im Jahr 2018 wuchs die Wirtschaft um zwei Prozent, während die gesamte Region 22 Prozent weniger Treibhausgase ausstieß als 1990. Das überzeugt anscheinend viele Investoren. In einer gerade erschienenen Umfrage des internationalen Beratungsnetzwerks EY erklärt über die Hälfte der globalen Konzernmanager Westeuropa zum “derzeit attraktivsten Investitionsstandort”. Im Jahr 2012 war es nur ein Drittel.

Auf lange Sicht scheint selbst der Brexit die Geschäftsleute nicht zu irritieren, und das aus gutem Grund. Zwar könnte ein schlecht gemanagter Ausstieg der Briten hohe Kosten erzeugen, aber nur vorübergehend. Ein normales EU-Mitglied war das Land nie. Erst wollten führende Politiker gar nicht in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hinein, dann erpresste Premierministerin Margaret Thatcher 1984 von Brüssel den “Britenrabatt”, der den britischen Nettobeitrag um mehr als die Hälfte verringerte. Die Insel war immer ein eigenwilliger Teil Europas und wird das auch bleiben, dem Kontinent jedoch verbunden über Handel, Finanzen und andere Interessen.

Europa, das bedeutet wie jetzt beim Brexit oder zuvor bei der Rettung Griechenlands so etwas wie Dauerkrise, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Verborgen bleiben dagegen wirtschaftliche Erfolge. So hat sich die Zahl der “Einhörner”, also der milliardenschweren Start-ups, seit 2014 fast verdreifacht. Zu den über 50 Firmen dieses Zirkels gehören Klarna aus Schweden, die das Bezahlen im Internet erleichtert, die estnische Mitfahr- und Taxi-App Taxify und das deutsche Abo-Essen-Unternehmen HelloFresh.

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