Hans Joachim Schellnhuber erklärt den Deutschen seit mehr als 25 Jahren
den Klimawandel, trotzdem fallen ihm immer noch neue Bilder dafür ein. “Wussten Sie, dass die
Kommandobrücke der
Titanic
nach Sichtung des Eisbergs noch 30 Sekunden gewartet hat,
bevor sie den Kurs änderte?”, fragt er.
Dass der Mann am Steuer der
Titanic
einfach gewartet hat, davon hatte man zwar bisher nicht gehört, aber es ist natürlich ein starkes Bild. Dreißig Sekunden, in denen der Untergang noch hätte verhindert werden können. Dreißig Sekunden, in denen nichts geschah.
Hans Joachim Schellnhuber hat das Bild vor Kurzem bei einem Vortrag in Athen ausprobiert. Er hat die Zuhörer gebeten, 30 Sekunden herunterzuzählen, während die Katastrophe immer näher rückt.
“Das halten die Leute kaum aus”, sagt Schellnhuber, noch froh über die Wirkung. “Man glaubt gar nicht, wie lang 30 Sekunden sein können.”
Er sitzt in seinem Büro im Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, einem gelb-roten Backsteinbau, der auf einer Anhöhe über der Stadt liegt. Er hat den Klimawandel schon mit einem Asteroiden-Einschlag in Zeitlupe verglichen. Und die Menschheit, die darauf reagiert, mit einem Mann, der vom Hochhaus springt und bis zum Aufschlag denkt, bis hierhin sei doch alles gut gegangen. Nun ist es die
Titanic,
die untergeht, weil niemand handelt. Der Pressesprecher sitzt daneben und schreibt mit.
Hans Joachim Schellnhuber ist der bekannteste Klimaforscher des Landes, auf manchen Veranstaltungen wird er sogar als “der berühmteste Klimaforscher der Welt” angekündigt. Selbst wer sich in der Vergangenheit nur am Rande für den Zustand des Planeten interessierte, bekam es irgendwann mit seinem hageren Gesicht und der sanften Stimme mit dem niederbayerischen Akzent zu tun, beide stets im Ausdruck begründeter Sorge.
Es gibt vermutlich keinen deutschen Wissenschaftler, der in den vergangenen 25 Jahren stärker auf die Gesellschaft eingewirkt hat. Er hat Angela Merkel beraten, als sie noch Umweltministerin war, er war ihr Chefberater, als sie Kanzlerin wurde. Er hat vor den Vereinen Nationen gesprochen, im Weißen Haus und im Vatikan, nachdem er auch noch den Papst beraten hatte. Er kennt Prinz Charles, Al Gore und Greta Thunberg und scheut sich nicht, das zu erwähnen.
Wer die vielen, vielen Interviews vergleicht, die Schellnhuber in diesen 25 Jahren gegeben hat, dem fällt auf, dass sie alle ähnlich ablaufen. Erst berichtet er, was der Menschheit nach dem neuesten Stand der Forschung droht – die schmelzenden Eisschilde, die Austrocknung des Regenwaldes, das Zusammenbrechen der Monsune, die Stürme, die Dürren, die Fluten, Millionen Menschen, die aus unbewohnbar gewordenen Gebieten fliehen, all der Horror, der inzwischen unser Bild von der Zukunft prägt. Dann sagt er, was die Menschheit dagegen unternehmen kann – Ausstieg aus Erdöl, Kohle und Gas, Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, Umbau der gesamten Art und Weise, wie wir leben, wirtschaften und mit der Natur umgehen.
Ist die Katastrophe denn noch aufzuhalten?
“Ich bin überzeugt, dass es noch möglich ist”, sagt er dann meist in den Interviews, “wenn wir jetzt rasch handeln.”
Es ist wie mit seinem Bild von der
Titanic.
Die Lage ist dramatisch, die Katastrophe ist nah, und sie kommt scheinbar unaufhaltsam näher. Aber noch ist es nicht zu spät, um alles abzuwenden. Es ist fünf vor zwölf. Aber das seit 25 Jahren.
Wie kann das sein?
Um diesen Widerspruch zu klären, muss man nicht nur mit Hans Joachim Schellnhuber in Potsdam sprechen, sondern auch mit Andreas Oschlies in Kiel und mit Julia Pongratz in München: drei Klimaforscher, drei Generationen – und trotzdem wird es noch jemanden brauchen, der gar kein Klimaforscher ist, um den Widerspruch ganz zu verstehen.
Moderne Klimaforschung ist nicht nur der Versuch, die Zukunft des Planeten so genau zu beschreiben, wie das keine Wissenschaft zuvor in der Geschichte getan hat. Sie ist auch der Versuch, diese Zukunft zu beeinflussen. Klimaforscher berechnen nicht nur, welche Folgen der Klimawandel für die Menschheit hat. Sie sagen auch, was wann wie getan werden müsste, um ihn zu stoppen. Die Wissenschaft beschreibt nicht nur das Problem, sondern auch die Lösungen. Die Menschheit muss sich dann nur noch dafür entscheiden, das Richtige zu tun. Richtig, weil es wissenschaftlich berechnet ist.
“Zumindest war das die Hoffnung”, sagt Hans Joachim Schellnhuber. “Ich stopfe vorn Wissen hinein, und dann kommt hinten eine zielführende Entscheidung heraus. Ein simples lineares Modell.”
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