Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen.
Eine liberale Demokratie gepaart mit einer kapitalistischen Marktwirtschaft – diese Kombination hat seit der Entwicklung
bürgerlicher Gesellschaften im 17. Jahrhundert zu einer beispiellosen
Zunahme des materiellen Wohlstands in den westlichen Industrienationen geführt. Lange hielt man dieses Tandem für
selbstverstärkend: Materieller Wohlstand führe zur Entstehung einer
Mittelschicht, die politische Freiheitsrechte fordere, welche dann wiederum
demokratische Institutionen befördere. Der damit entstehende
unternehmerische Geist sei zusammen mit dem Glauben an wissenschaftlichen
Fortschritt imstande, den jeweils neuen Herausforderungen einer
Gesellschaft zu begegnen und damit das Wohlergehen zu mehren.
Vieles an dieser Vorstellung ist in den vergangenen Jahren brüchig geworden. Wachstum schafft nicht notwendigerweise eine breitere
Mittelschicht und wenn sie entsteht, fordert sie nicht zwingend mehr
Bürgerrechte. Wachstum droht durch die daraus folgende Klimakrise die Grundlagen unseres
Lebens zu zerstören, und das Versprechen, dem quasi automatisch mit
technologischen Innovationen zu begegnen, lässt sich vielleicht nicht einlösen. Vielmehr
scheinen die neuen insbesondere digitalen Technologien nur wenig zur Nachhaltigkeit
beizutragen und sie können sogar die Spannungen innerhalb demokratischer Gesellschaften verstärken.
Wie können wir damit umgehen? Nur wenn wir folgende zentrale
Entwicklungen zusammendenken, können wir mit den richtigen
Maßnahmen reagieren.
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Erstens hat die Ungleichheit von
Einkommen und Vermögen zwischen Ländern seit 1980 zwar abgenommen, doch innerhalb vieler Staaten hat sie zugenommen. Jede Demokratie ist aber auf ein Mindestmaß an ökonomischer Gleichheit angewiesen.
Führende Ökonomen wie Thomas Piketty oder der Nobelpreisträger Robert Solow haben immer wieder darauf hingewiesen: Setzt sich die Konzentration von Reichtum
fort, verwandeln sich demokratische Staaten in De-facto-Oligarchien, in denen Demokratie nur noch die äußere
Hülle ist für eine nach innen von einer ökonomisch mächtigen Elite bestimmten
Gesellschaft. Die Gleichgültigkeit eines Teils der Bevölkerung gegenüber
demokratischen Institutionen befördert diesen Prozess weiter.
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Zweitens hat die
Globalisierung zu einer Machtverschiebung vom Staat hin zu internationalen Konzernen geführt. Die Möglichkeit für Staaten, Regeln zu setzen und durchzusetzen wird dadurch begrenzt. So können sich große Unternehmen zunehmend Besteuerung und Regulierung entziehen. Viele Staaten reagieren auf die Mobilität von Kapital mit einem race to the bottom in den Steuersätzen
und Regulierungsstandards.
Leidtragende sind international die immobilen Arbeitnehmer und Bürger, die einen
immer höheren Anteil der Finanzierungslast einer immer schlechteren staatlichen
Infrastruktur tragen.
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Drittens: Mit der Digitalisierung hat die
Machtverschiebung vom demokratischen Souverän hin zu den Konzernen noch eine weitere Form
angenommen. In wichtigen Bereichen sind es de facto die großen
Digitalunternehmen wie Google oder Facebook, die die Regeln setzen und durchsetzen. Das Verhalten wird nicht länger vom Rechtssystem gesteuert, sondern von Algorithmen. Code is Law, wie
Lawrence Lessing es im Jahr 2000 beschrieb. Die Algorithmen prägen wesentlich, was gesellschaftliche Bedeutung hat. Die Digitalunternehmen aber empfinden nur eine geringe Pflicht, sich in Bezug auf die damit implementierten Werte zu rechtfertigen – weder gegenüber Staaten, noch gegenüber den
Menschen, auf die sie einwirken.
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Viertens wird uns durch die
Entwicklungen der Digitalisierung und der Robotik zwar die Arbeit nicht ganz ausgehen, aber der Strukturwandel führt
zumindest mittelfristig zu Arbeitsplatzverlusten. Aber Arbeit ist für die Menschen nicht nur eine Quelle des Einkommens, sondern auch ein wichtiger Teil von Lebenssinn, Anerkennung, Würde und Zugang zu sozialen
Kontakten. Wenn Arbeit weniger wird, können große Härten und Unsicherheiten entstehen,
die die Gesellschaft weiter politisch radikalisieren dürften.
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Fünftens gibt der
aktuelle UN-Report
zum Klimawandel ein Zeitfenster von zwölf Jahren vor, innerhalb dessen noch Zeit sei, die schlimmsten Auswirkungen von
Hitze, Dürre, Überflutung, Armut und Migration abzuwenden. Es ist nicht nur das
Weltklima, das zu kippen droht. Nach dem UN-Report zur Biodiversität sind eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Dieser dramatische Verlust an Biodiversität ist extrem besorgniserregend, da an einem schwierig zu prognostizierenden Punkt die Ökosysteme zusammenbrechen. Wir benötigen sie aber zum Überleben. Das Leben vieler
Menschen und der Fortbestand unseres Lebensmodells stehen auf dem Spiel. Unsere Produktions-, Konsum-, Mobilitäts- und Essgewohnheiten sind nicht nachhaltig und die Bevölkerung wächst weltweit.
Nimmt man diese fünf Punkte zusammen, wird das Ausmaß an Fehlentwicklungen sichtbar. Und es wird klar,
dass eine partielle Perspektive auf diese Probleme nicht vernünftig ist. Die Beschäftigungspolitik darf nicht zu Lasten des Klimas gehen, eine
Digitalisierungsstrategie muss politische Rückkoppelungen berücksichtigen.
Und eine Umweltpolitik, die die soziale Frage nicht mit einbezieht, muss scheitern.
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