Sie küssen den Rasen und überschütten sich gegenseitig mit Bier. Sie
schreien, tanzen und weinen im Stadion an der Alten Försterei. Die Fans des 1. FC Union Berlin
erleben den größten Erfolg der 99-jährigen Vereinsgeschichte: Ihr stolzer Underdog-Club aus
dem Südosten der Hauptstadt ist zum ersten Mal in seiner Geschichte in die Erste Bundesliga
aufgestiegen.
Aber was macht der Trainer, der Schweizer Urs Fischer? “Ich muss jetzt erst mal kurz zu meiner Familie”, sagt er, bevor er im Lift verschwindet, pflotschnass von den Bierduschen. In der Ehrenloge warten seine Frau und die beiden Töchter. Und als Fischer in den TV-Interviews nach der Pressekonferenz wieder und wieder gefragt wird, wie er sich gerade fühle, sagt er: “Ich bin froh, wenn ich jetzt mal zwei, drei Minuten alleine in meinem Büro sein kann.” Er möchte gar nicht mit der Mannschaft und den Fans feiern? Doch, klar, bloß ein paar Minuten für sich hätte er gerne, um das Geschehene zu verarbeiten.
Vielleicht spürt der pflichtbewusste Schweizer in diesem Moment bereits, dass die wirklich große Aufgabe erst noch ansteht: mit dem 1. FC Union und dessen Mini-Budget die Klasse zu halten.
Kann Fischer das?
Wer das entscheidende Relegationsspiel um einen Platz in der ersten Liga gegen den Bundesliga-Sechzehnten VfB Stuttgart verfolgt hat, der dürfte daran zweifeln. Er sah: Rumpelfußball. Bei Union kamen von 296 gespielten Pässen nur 162 beim Mitspieler an. Oliver Ruhnert, der sportliche Geschäftsführer des Clubs, sagt: “Wir müssen uns in der nächsten Saison fußballerisch deutlich verbessern.” Das ist auch an den Trainer gerichtet.
Doch Urs Fischer, heute 53, ist es gewohnt, dass er sich immer wieder beweisen muss, dass vieles gegen ihn spricht. Elf Jahre spielte der Sohn einer Italienerin und eines Schweizers bei seinem Heimatverein FC Zürich. Mit seiner Körpergröße von 1,75 Meter hatte er für einen Innenverteidiger weder die nötige körperliche Präsenz im Strafraum noch brillierte er technisch. Aber dank Einsatzwillen, Zähigkeit, gutem Spielverständnis und seinem Herz, das ihm auf der Zunge lag, avancierte er zum Mannschaftskapitän und Publikumsliebling. 2003 verabschiedeten die Fans in der Südkurve den Sohn der Stadt mit einem großen Spruchband. “Für immer oise Captain”, stand darauf, “Für immer unser Kapitän”.
Als Trainer beim FC Zürich erfuhr er weniger Wertschätzung. Nach seinem Karriereende als Spieler fing er dort direkt als Nachwuchscoach an. 2010 wurde er Chef der Profi-Mannschaft. Nach zwei Jahren und einer Vizemeisterschaft wurde er mitten in der Saison freigestellt, als die Mannschaft auf dem sechsten Tabellenplatz herumdümpelte. Für Fischer war das ein Hochverrat. Ihn plagten Zukunftsängste. Wenn er aus dem Haus ging, hatte er das Gefühl, dass die Leute ihn schief anschauten, erzählte er damals einer Schweizer Journalistin. Noch heute würde er dem FCZ-Präsidenten Ancillo Canepa nicht die Hand schütteln, sagt einer, der ihn gut kennt.
Der Neuanfang als Trainer gelang ihm in der Provinz beim kleinen FC Thun. Zweieinhalb Jahre später wechselte er zum erfolgsverwöhnten FC Basel – und musste trotz zweier Meisterschaften und eines Pokalsiegs den Posten räumen, weil eine neue Vereinsführung “neue Impulse” setzen wollte. Als “Angsthasen-Fußball” wurde Fischers Spielstil in den Schweizer Medien bezeichnet. Nach dem sportlichen Schicksal von Basel befragt, empfindet Fischer heute keine Schadenfreude, obwohl ihn das Aus damals schwer traf. Der leidenschaftliche Fliegenfischer ging angeln und renovierte in seinem Haus die Küche.
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