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Alternative EM: Diese Staaten gibt es gar nicht

Der Fußball ist, wie er ist.
Spieler verzehren mit Blattgold überzogene Steaks. Deren Anhänger bezahlen
überzogene Ticketpreise. Und manch neue Arena kommt so aseptisch daher wie ein
Duty-Free-Shop. Die Wiederwahl von Gianni Infantino als Fifa-Chef
beklatscht von seiner willfährigen sogenannten Fußballfamilie – hat kürzlich noch einmal
gezeigt: Der Fußball ist, wie er ist.

Was aber, wenn irgendwo ein Spiel steigt, bei dem der Eintritt zur einzigen Stadiontribüne kostenfrei ist? Bei dem direkt nach dem Abpfiff ein paar Kids das Feld stürmen? Bei dem der Schiedsrichter 50 Stunden Autofahrt und vier Landesgrenzen hinter sich gebracht hat, nur um dabei zu sein? Und bei dem im Hintergrund die rötlich schimmernde Sonne hinter den Gipfeln der kaukasischen Berge versinkt?

Conifa Sportsbet.io European Football Cup 2019 heißt die romantische
Veranstaltung etwas unromantisch. Auf Plakaten in den Stadien schlicht Euro 2019. Sie wird vom Verband Conifa
ausgetragen, der nicht anerkannte Staaten und ethnische Minderheiten
beheimatet. Die Teams, die hier aufeinander treffen, heißen Abchasien und Südossetien, Sápmi und Padanien. Gespielt wird in Arzach, einer besser als Bergkarabach bekannten Region,
die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, sich aber 1994 in einem Krieg gelöst hat und de facto unabhängig ist. Sie wird von
Armeniern bewohnt und ist mit dem Mutterland eng verbandelt. Anerkannt
als Staat wird Arzach offiziell von keinem anderen Staat –
nicht einmal von Armenien.

Es liegt bei einem solchen Austragungsort in der Natur der Dinge, dass nur sehr wenige Fans von außerhalb den weiten Weg auf sich nehmen. So viel Romantik hält ja nicht jeder aus. Nach Arzach gelangt man über die armenische Hauptstadt Jerewan und eine anschließende siebenstündige Busfahrt durch die Berge. Und dann sitzt da im Stadion der Kleinstadt Askeran doch tatsächlich ein langhaariger Deutscher mit seiner fünfjährigen Tochter. Er versucht ihr mit einer Plastiktüte die Reste ihres Schokoeises aus dem Gesicht zu wischen – “Jetzt komm, ich hab’ nix anderes!” – sie dreht sich weg, bis eine arzachische Frau sich erbarmt und dem wunderlichen Westling ein Taschentuch reicht.

Marco von Basten heißt hier jemand mit Vornamen

“Für mich ist der Kaukasus das Paradies auf Erden”, erklärt Carlo Farsang. “Hier wird noch ehrlicher Fußball gespielt.” Seine Tochter sagt: “Hier ist viel zu heiß!” Es erscheint skurril, dass Farsang da ist, nur für ihn selbst nicht. Er ist Groundhopper und war schon in mehr als 2.000 Stadien in 127 Ländern. 

Alternative EM: Carlo Farsang

Carlo Farsang
© Nik Afanasjew

Auf dem Feld mühen sich Abchasien und Chameria, eine abtrünnige
georgische Region und eine albanische Minderheit im Nordwesten
Griechenlands. Bei Chameria spielt ein Stürmer, der mit Vornamen Marco van Basten heißt. Farsang schätzt das Niveau auf “Oberliga”. Zuletzt besuchte er das Europa-League-Finale in
Baku, das vor all wegen der Weigerung des Arsenal-Armeniers Henrikh
Mkhitaryan, nach Aserbaidschan zu reisen, diskutiert wurde
. Farsang
erzählt: “Dort waren die Tickets teuer und die Stimmung schlecht. Das
ist kein Fußball mehr. Hier können sich Menschen noch freuen.” Er zeigt
nach vorne, wo lokale Jugendliche mit den Fähnchen beider Teams
herumspringen.

Es ist eine ungewöhnliche Zeit für Arzach, nicht nur wegen des Turniers selbst. In Armenien hat vor etwa einem Jahr die Samtene Revolution stattgefunden. Der neue starke Mann, der Reformer Nikol Paschinjan, will echte Demokratie, und egal ob es ihm gelingt oder nicht, ist es das erste Mal, dass Armenien sich aus dem Würgegriff postsowjetischer Kleptokraten löst, frei atmet, streitet. Der alte Präsident aber, genauso wie dessen Vorgänger, kam aus Arzach. Der kleine Zankapfel hängt an Armenien, er ist dessen Muskel.

Wirtschaftlich ist Arzach seit dem Ende der Sowjetunion am Boden. Produziert wird hier vor allem nationaler Widerstandsgeist. Überall ist Militär zu sehen und sehr viel Polizei. Armenien war das erste Land, das im Jahre 301 das Christentum zur Staatsreligion erklärt hat. Es vergeht kein Tag in dem Land, an dem man das nicht liest, gesagt oder erklärt bekommt. Umgeben von Muslimen verteidigt diese urchristliche Insel sich und die Welt. So versteht sich Arzach selbst.

100 Euro pro Monat

Fast alle Einheimischen befürworten die demokratische Wende in Armenien, auch wenn noch unklar ist, wie sie sich in Arzach genau auswirken wird. “Ich respektiere die alte Führung. Aber sie war zu lange da und in ihrem Umfeld wurde zu viel geklaut. Wir müssen doch irgendwie leben”, sagt ein Bauarbeiter, der am Stadion in der Hauptstadt Stepanakert einen Zaun sichert. 100 Euro bekommen ungelernte Arbeiter pro Monat. Davon wird man auch in Arzach mit seinen fruchtbaren Böden kaum satt.

Bezahlt wird die alternative EM vom Ausrichter. 1,5 Millionen Euro hätten lokale Geschäftsleute und Behörden ausgegeben, heißt es aus dem Umfeld des Organisationsteams hinter vorgehaltener Hand. Ein Staatsminister hebt bei der Frage nach Geld nur seine Schultern, was bei ihm etwas furchteinflößend aussieht, weil er früher professioneller Ringer war. Kurz vor dem Gespräch mit dem Minister ist auch noch der Gastgeber Arzach nach einem 1:1 gegen Abchasien knapp in der Gruppenphase gescheitert, da erscheinen weitere Nachfragen nicht ratsam. Der Minister aber gibt sich versöhnlich: “Brasilien ist auch bei seiner Heim-WM rausgeflogen. Für uns geht es darum zu zeigen, dass wir gastfreundlich und friedlich sind.” Er verweist auf die vier neu errichteten beziehungsweise renovierten Stadien und die vielen neuen Straßen. “Wir werden unsere Fußballliga in Arzach beleben. Etwas wird bleiben.”

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