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Autoimmunerkrankungen: Stress macht mürbe

Stress ist zuallererst ein Gefühl. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, keinen
Handlungsspielraum zu besitzen, sein eigenes Leben nicht mehr im Griff zu haben. Egal ob Führungsperson, Alleinerziehende, Schüler, Studentin oder jemand, der keine Arbeit findet und am Monatsende ständig das Geld zählen muss: “Menschen empfinden Stress meist in unvorhersehbaren Situationen. Sie zu
meistern, übersteigt dann die eigenen Ressourcen”, sagt Christian Otte,
stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
Charité Berlin.

Rund jeder fünfte Deutsche über 18
Jahre fühlt sich häufig gestresst. Viele haben den Eindruck, dauernd den
eigenen Ansprüchen hinterherzulaufen und zu viele Verpflichtungen zu haben. Auch in der Freizeit gibt es Stress, zum Beispiel wenn nebenher ständig neue Nachrichten auf dem Handybildschirm
blinken, die Familie nach einem ruft oder der Haushalt wartet. Seit Jahren nehmen
die stressbedingten Krankschreibungen zu (TK-Stressstudie,
2016
). Viele davon werden ausgestellt wegen psychischer Beschwerden, wegen Burn-out
oder Belastungsstörungen. Im Körper kann Stress auf Dauer Spuren
hinterlassen. Er trifft das Herzkreislaufsystem und könnte – wie neue Studien
zeigen – sogar Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder
Rheuma begünstigen.

Wie kommt es dazu? Was löst Stress im Körper aus? Und warum ist es für Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler so schwer, die biologischen Mechanismen von Stress zu
ergründen?

Das Herz pumpt schneller, die Angst nimmt zu

Ist eine Situation als
stressig identifiziert, schaltet der Körper in den Alarmmodus. Angeregt durch
die Nervenstränge des sympathischen Nervensystems im Rückenmark schüttet die
Nebenniere Adrenalin und Noradrenalin aus. Die beiden Hormone sorgen dafür, dass sich die Atemwege weiten und die Lungen mehr Sauerstoff aufnehmen. Die Atmung beschleunigt sich, das
Herz pumpt schneller, die Blutgefäße verengen sich, der Blutdruck nimmt zu und
die Durchblutung von Gehirn und Muskeln steigt. Noradrenalin macht als Neurotransmitter zudem ängstlicher und aufmerksamer.

Die Nebennieren produzieren außerdem ein anderes, für die Stressantwort wichtiges Hormon, Cortisol. Cortisol tut zwei
Dinge: Es stellt dem Körper Energie zur Verfügung, indem es den
Blutzuckerspiegel erhöht und Fettsäuren ins Blut schleust. Und es unterdrückt
die Immunabwehr. Die Abwehr potenziell krank machender Viren und Bakterien wird
also kurzzeitig auf später verschoben.

Verschwindet der Stress, normalisieren sich die Hormonspiegel und damit auch der Stoffwechsel und das Herzkreislaufsystem. Stress an sich ist also nicht
schädlich, erklärt Gernot Langs, Chefarzt für Psychosomatik an der Schön Klinik in
Bad Bramstedt und Experte für Stresserkrankungen. “Zum Problem wird er
tatsächlich erst, wenn er uns dauerhaft begleitet und chronisch wird.” Und mit chronisch meint Langs Stress, der über Wochen und Monate mehrere Stunden pro
Tag auf eine Person einwirkt. Evolutionär ist Stress eigentlich dafür da, den Körper kurzfristig für Gefahren
fit zu machen. Er sollte aber nicht zum Lebensbegleiter werden.

Erst Stress, dann Herzinfarkt und Schlaganfall

“Sind Pulsfrequenz und Blutdruck
dauerhaft erhöht, kann das Herz und Gefäße schädigen und damit das Risiko für
Herzkreislauferkrankungen erhöhen”, sagt Chefarzt Langs. Zu diesem Schluss
kommt auch eine schwedische Beobachtungsstudie
(BMJ: Song
et. al., 2019
). Die Forscherinnen
und Forscher begleiteten mehr als 130.000 Personen mit einer stressbedingten Erkrankung – die Diagnosen reichten von Stressreaktionen bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörungen –
über einen Zeitraum von 27 Jahren und verglichen sie mit 170.000
Geschwistern und 1,3 Millionen nicht gestressten Kontrollpersonen. Das Ergebnis:
Die Gestressten bekamen deutlich häufiger Herzkreislaufprobleme
wie Herzrhythmusstörungen, Schlaganfälle und Herzinfarkte.

Darauf, welche Rolle das Immunsystem dabei spielen könnte, weist eine Untersuchung hin, die im
Fachblatt Nature Medicine erschien (Heidt et. al., 2014).
Die Versuchsgruppe waren 29 Ärztinnen und Ärzte, die auf einer Intensivstation
in Boston besonders stressige Arbeit verrichteten. Mithilfe von Fragebögen
maßen die Wissenschaftler, wie stressig die Mitarbeiter ihren Alltag bewerteten,
außerdem entnahmen sie ihnen Blut und untersuchten es auf gängige
Immunsystemmarker. Und tatsächlich: je gestresster die Ärzte, desto mehr
Leukozyten fanden sich in ihrem Blut. Diese weißen Blutkörperchen sind für
die Abwehr von Krankheitserregern zuständig. Gibt es jedoch zu viele von ihnen, können sie an den Gefäßinnenwänden Entzündungen auslösen und die
Arterien verstopfen, was wiederum das Risiko eines Schlaganfalls oder
Herzinfarkts erhöht. Ein Versuch mit Mäusen bestätigte den Zusammenhang von Stress und Leukozyten.

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